(Der Illuminator Rufillus; Selbstbildnis in der Initiale R. Miniatur in der Handschrift Genf, Bibliotheca Bodmeriana, Ms. 127, fol. 244r, um 1170/1200; entnommen aus Alexander, Medieval Illuminators, 17. Quelle: https://uni-salzburg.elsevierpure.com/de/publications/schreiben-und-abschreiben-von-der-kl%C3%B6sterlichen-schreibstube-zum- “Schreiben und Abschreiben – Von der klösterlichen Schreibstube zum studentischen Nebenjob”)
Die Kenntnis der Schrift und die Fähigkeit zu lesen war früher nur den gebildeten Ständen zugänglich. Schreiber und Kopisten schrieben in unendlicher Mühsal ab. Um das Lesen dem Nutzer angenehmer, sicher auch das Schreiben dem Schreiber heiterer zu machen, illustrierte der Mönch die Majuskeln (Großbuchstaben) in bunter Pracht. Einem großen Publikum bekannt sind die zum Teil sehr frechen, ungehörigen oder erotisch angehauchten Illustrationen des irischen Book of Kells:
(In this detail from the
Book of Kells, showing the heads of lions and chalices
spouting vines, we can more clearly see the zoomorphic aspects of the
interlace. Author: https://shikan.org/bjones/Books/booktext.html “Manuscripts, Books, and Maps: The Printing Press and a Changing World” ).
Wahr ist: Um die Heilige Schrift zur Unterweisung der Novizen und Scholaren anzupassen, gab man sie ab ca. 1350 fast nur in Bildern aus, mit wenigen Texthäppchen: die Biblia Pauperum, die Armenbibel. http://www.beyars.com/kunstlexikon/lexikon_1107.html
(Wikipedia, gemeinfrei)
Vermutlich unwahr ist: dass sie für die Ungebildeten, die “Armen im Geiste” sei.
Ganz sicher heute ist: dass mich das mit den Texthäppchen schwer an Comics und das Internet erinnert. Denn mehr als 4-5 Zeilen wird auch heute nicht am Stück gelesen.
QED, XXIX.IX.MMVIII
Selbst wenn wir mal unberücksichigt lassen, ob die Armenbibel für Bauerntrampel oder Klosternovizen gedacht war, bleibt der Unterschied: Das Ding wurde mit dem damaligen state of the art hergestellt, um Unkundige auf einen höheren Wissensstand zu heben. Es hat sie respektiert, indem es ihnen zutraut, Pergament statt Heugabeln nutzbringend zu handhaben. Die heutige Aufmerksamkeitsspanne über die erwähnten 4-5 Sätze ist dagegen ein Abstieg: Heutige_Bauerntrampel und Klosternovizen bringen aus der Schule Lesekenntnisse mit, die für Dünndruckbibeln reichen, aber eben keine
Bereitschaft zu irgendwas. Und fühlt sich dann eben doch persönlich beleidigt, wenn nicht genug Bildeln dabei sind. Der state of the art wird nicht auf Inhalte verwendet, sondern sogar auf Inhaltseinschränkung. So sapere-aude-technisch gesehen waren die Leute 400-800 Jahre vor der Aufklärung aufgeklärter als die heute vorherrschende Hochkultur. Ein Zeitalter der Kommunikation will das sein…