Thomas und Katia Mann 1929, Stern 51, 2001

Man kann viel gegen Thomas Mann einwenden und tut es auch. Ein widerwärtiges Großbürgerschätzchen muss er gewesen sein; kein Problem — oder eben doch eins —, dass er schwul war, aber dazu stehen hätte er ruhig dürfen, statt sich selbst samt seiner Familie mit dem aggressiven Depri aus seiner ungelebten Sexualität zu sekkieren. Damit hat er Frau und Kinder bis mindestens ins dritte Glied mit in seinen Sumpf gezogen, mehr Glieder sind es aus zeitlichen Gründen bis jetzt nicht. Ein richtig gelungenes Leben hat niemand aus seinem Umfeld, alle waren sie überschattet von diesem übellaunigen Monument von Oberhaupt, das eigentlich Goethe sein wollte und sich wahrsacheinlich für ihn gehalten hätte, wenn er nicht entschieden zu gescheit dafür gewesen wäre. Ein Hoher Sohn, ein übersteigerter Vater. Der Mann verkörpert alles, was man aus begründetem Selbstschutz hasst. Einfach ekelhaft.

Nicht einmal der Nobelpreis 1929 konnte ihn befriedigen: Daran hatte er zu mosern, dass er ihn für seinen Erstling, die Buddenbrooks bekam statt für sein Lieblingsbuch, den Zauberberg, das 800 Seiten lang einem jungischen Großbürgerschätzchen zuschaut, wie es sich sieben Jahre lang langweilt.

Und das ist die Stelle, an der wir aufhorchen sollten: Da hat er doch Recht, der Mann. Einen Nobelpreis für diesen belanglosen Schnelldurchlauf einer Familiengeschichte von Buddenbrooks? Der Zauberberg dagegen, die thematisierte Langeweile, die er jedoch mit einer so bestechenden Klarheit ausgewalzt hat, dass sie tatsächlich auf keiner der 800 Seiten langweilig wird, nur eins von ziemlich vielen, ziemlich dicken Folgebüchern? Sagt, was hatten die in Stockholm für Übersetzungen? Alles was recht ist: Da konnte sich der verknieste Krauterer ganz gut selbst einschätzen.

Alle Vorwürfe gegen Thomas griffen, wenn er sich mit seiner geradezu sprichwörtlichen allfälligen Ironie (allein schon das Wort…) von oben herab raushängen ließe, dass er sich gerade nur gemein macht. Das tut er nicht. Er schont sich nicht, er weiß, was er für ein Arsch ist, selbst noch in jedem Moment seiner Sitte, jedes Wort, und er braucht viele davon, in moralische Anführungszeichen zu setzen. Er ist unglücklich geblieben dabei. Er hat seine Lieben noch mitgerissen, was ihm vermutlich nicht recht war, aber es hat sich nun mal nicht anders ergeben. Für sein Leben war alles, was er tat, sinnlos, jeder heutige Freizeitpsychologe könnte ihm Besseres raten — aber ich glaube, dass er aufrichtig war. Er hat nichts geändert, er hat nur getan, was er am besten konnte: auf verdammt hohem Niveau schreiben.

Seine Bücher sind ernst, meist sogar tragisch, es geht viel um die Schmerzen des Künstlers, an denen er sicher selbst litt, und gegen die er mit einem Schnäpschen am Morgen anging, das er sich ins Arbeitszimmer hinterhertragen ließ. Wenn man sich auf den Tonfall einlässt, findet man an allen Ecken und Enden was zu grinsen. “Ohne Furcht vor dem Odium der Peinlichkeit” (Der Zauberberg, Vorwort) schickte er mehr oder weniger latent schwule Schreiber in Tod, Elend, Verdammnis, Bedeutungslosigkeit oder mehreres davon, und wenn er es mit seinen letzten paar Freunden verderben musste (in Wälsungenblut die dekadentesten Adelsbengel der Literaturgeschichte im Inzest aufeinanderhetzen! gegen Schluss von Doktor Faustus noch den süßesten aller Himmelsknaben ins Kindergrab senken! anhand allzu leicht entschlüsselbarer realer Vorlagen!) — aber so, wie er es sagt, liegt in allem ein menschlich umfassender Trost. Er hat Epigonen in Legion, aber das konnte nur er.

So gesehen ist er gar nicht so weit weg von Goethe, nur dass seine wenigen Gedichte noch mieser sind. Ver-dichten lag ihm nicht, er brauchte Platz, und davon jede Menge.

Jener Zauberberg und Doktor Faustus gehören zu den paar Büchern erheblichen Umfangs, die ich gleich zweimal durchgehalten hab und nicht anstehen werde, ein drittes Mal zu lesen, was ja alles Lebenszeit bedeutet; wegen dem letzteren hätte ich ums Haar angefangen, Musikwissenschaft zu studieren (Kontrabass vielleicht, Kontrabass ist cool. Im Seniorenstudium vielleicht), und im Tod in Venedig, der uns allen einst zahlreiche Deutschstunden sinnlos verlängern half, tritt eine Nebenfigur auf, und zwar zwei Mal, die er beim ersten Mal unnötig lang und breit beschreibt. Beim zweiten Mal noch einmal — aber jetzt mit einem vollständig anderen Wortschatz. Man muss sehr genau dabeibleiben, um überhaupt mitzukriegen, dass es die gleiche Person ist. Diese beiden Stellen haben mich, der ich über der Kunst der Personen- und Landschaftsbeschreibung die Vorzüge des Mediums Comic schätzen gelernt habe, sogar noch einmal zu Karl May getragen, der seine zusammenerfundene Schießbude der amerikanischen Great Plains mit einer sächselnden Geisterbahn bevölkert hat. Und es wurde besser davon. Ob Thomas Mann das gewollt hätte?

Es war sicher nicht seine Absicht, wohl aber sein Verdienst. Wahrscheinlich hätte er sich das dünne Haar gerauft und es als weiteres Zeichen künstlerischen Scheiterns gedeutet, oder schlimmer: von Missachtung und Unverständnis selbst noch des interessierten Publikums. Mein Wohlwollen für Vater Thomas Mann ist angelernt, aber solide, helfen kann ich ihm aber nicht. Und seine Künstlerschmerzen sind so echt wie die leise laufenden Tränen über seinem etwas verkniffenen, zwanghaft ironischen Lächeln.

Und das rettet ihn. Der Mann ist — leider — gut.

1929, vor 80 Jahren, bekam er seinen zähneknirschend angenommenen Nobelpreis. Von seiner Reise nach Schweden stammt ein Pressefoto, das ihn mit seiner Frau Katia am Bahnhof zeigt.

“Ja grüß Sie Gott, Herr Mann! Gut, dass wir Sie hier treffen. Wollen Sie nicht kurz mit Ihrer Frau für eine Photographie posieren?”

“Wir haben leider nicht viel Zeit, junger Mann. Die Bahn fährt auch ohne uns ab, wenn Sie verstehen.”

“Selbstverständlich, Herr Mann! Stellen Sie sich einfach hier auf und tun Sie so, als ob Sie Ihre Frau leiden könnten, es dauert ja nicht lange, ha, ha, ha…”

“Mir scheint, wir haben es hier mit einem Scherzbold zu schaffen, meine liebe Katia. Wir wollen ihm den Gefallen tun.”

“Belieben Sie doch gefälligst die werten Beine über Kreuz zu stellen, Herr Mann! Das wirkt sicher besonders intelligent!”

“Etwa so, junger Freund?”

“Ganz famos, Herr Mann! Man merkt sogleich den Fachmann, wenn ich so sagen darf, Herr Mann! Und rücken Sie doch Ihr kleidsames Henkelkissen ins Bild! Das weist Sie als besonders ausgebufften Weltreisenden aus!”

“Ganz wie meinen. Nun muss es dennoch genügen. Die Bahn, Sie wissen…”

“Selbstverständlich, Herr Mann! Wir haben Sie bereits ‘im Kasten’, wie wir Pressephotographen sagen. Haben Sie recht vielen Dank und viel Glück auf Ihrer Reise!”

So springt Deutschland mit seinen Helden um. Der Stern hat das Bild Ende 2001 aus den Tiefen des Ullstein Bilderdienstes ans Licht gezerrt, und selber bin ich ja auch nicht besser. Und Sie speichern es wahrscheinlich und empfehlen es als funny forward herum, wenn sich schon mal dergleichen von einem Dichterfürsten findet. Alles für die Kunst. Das hängt ihm jetzt 80 Jahre lang nach, dem Mann.

Heute wird er 134. Vielleicht waren das Gründe genug, 2010 zu einem kleinen Thomas-Mann-Jahr auszurufen. Der Buchhandel arbeitet zweifellos fieberhaft dran.

Der Mann und seine Frau: Thomas und Katia Mann, Berlin 1929: Ullstein Bilderdienst für den Stern 51/2001. Bildunterschrift: “Thomas Mann und seine Frau Katia 1929 in Berlin. Der Dichter mit Hut, Stock und Henkelkissen erhält in diesem Jahr den Nobelpreis.”