Der deutsche Tonsetzer Adrian Leverkühn ist am 23. Mai 1941 “aus tiefer Nacht in die tiefste gegangen”, welchen Ausdruck Thomas Mann durch seinen Erzähler des Doktor Faustus, den Dr. phil. Serenus Zeitblom, für Leverkühns Tod verleiht.
Tags darauf, den 24. Mai 1941, ist der amerikanische Tonsetzer Robert “Bob Dylan” Zimmermann geboren. So hat, ohne dass der erfindungsreiche Thomas Mann davon erfahren konnte, das Musikgenie der alten Zeit das Szepter an dasjenige der neuen Zeit fliegend überreicht: Adrian Leverkühn, den es nie gab, an Bob Dylan, den es noch lange geben soll. Ein vernachlässigter Umstand in der Berichterstattung über Dylans siebzigsten Geburtstag.
Man mag sich erinnern, worin Adran Leverkühns “tiefe Nacht” im diesseitigen Leben bestand: Um den Preis, vierundzwanzig Jahre lang zum allerfeinsten, genialsten und höchststehenden musikalischen Schaffen befähigt zu sein, verschreibt er seine Seele für alle Zeit, die darauf folgt, dem Teufel. In seiner “geheimen Handschrift”, die zum Fulminanstesten gehört, was nicht nur Thomas Mann je zusammengesponnen hat, liest sich der Kontrakt:
Er: “[…] Zeit hast du von uns genommen, geniale Zeit, hochtragende Zeit, volle vierundzwanzig Jahre ab dato recessi, die setzen wir dir zum Ziel. Sind die herum und vorübergelaufen, was nicht abzusehen, und ist so eine Zeit auch eine Ewigkeit, – so sollst du geholt sein. Herwiderumb wollen wir dir unterweilen in allem untertänig und gehorsam sein, und dir soll die Hölle frommen, wenn du nur absagst allen, die da leben, allem himmlischen Heer und allen Menschen, denn das muß sein.”
Ich (äußerst kalt angeweht): “Wie? Das ist neu. Was will die Klausel sagen?”
Er: “Absage will sie sagen. Was sonst? Denkst du, Eifersucht ist nur in den Höhen zu Hause und nicht auch in den Tiefen? Uns bist du, feine, erschaffene Creatur, versprochen und verlobt. Du darfst nicht lieben.”
usf. “Gut altdeutsch, ohn’ alle Bemäntelung und Gleisnerei” (a.a.O.) heißt das: Leverkühn durfte nur komponieren, niemals lieben. Das interessiert uns ehrfürchtige Lesejünger, weil von Leverkühn alles über seine fiktive Biographie, hingegen nichts von seinem musikalischen Schaffen auf uns gekommen. Bei Bob Dylan verhält es sich umgekehrt: Wir ehrfürchtigen Musikjünger besitzen alle seine Platten und wissen über sein Werden, Werben und Wandeln nur, was er uns wissen lässt. Beides ist gänzlich in der Ordnung.
Einige Jahrzehnte nach Leverkühns Ende und Dylans Anfängen verliebte sich in meine bescheidene Person ein Mädchen von hoher Schönheit und Intelligenz, das dem Prinzip der körperlichen Leidenschaft in ihrem Herzen einen großen und besonders kuschligen Raum gab. Sie konnte genau so küssen, wie Bob Dylan auf Don’t Think Twice, It’s All Right Mundharmonika spielt. Vielleicht hätte mich ausgerechnet dieses Lied von Anfang an misstrauisch stimmen sollen. Trotzdem verfügte sie damit über eine unter Mädchen jeglichen Alters vernachlässigte Fertigkeit.
Genau das unterscheidet die Musik Leverkühns von der Dylans: Die erstere muss ohne Liebe auskommen bis zu dem Grade, dass ihr Schaffender für einen Anflug wärmender Liebe, von liebender Wärme zur Hölle führe, sie ist ganz Hirn-Gespinst bis zu dem Grade, dass sie rein als theoretische Beschreibung existiert – nachzuvollziehen im XXII. Kapitel des Doktor Faustus –, letztere besteht nahezu aus Sinnlichkeit, subjektivem Empfinden, eben aus Liebe und jener Form des Hasses, die nicht das Gegenteil von Liebe, sondern ihr unmittelbarer Nachbar ist. Mit Dylan wäre kein teuflischer Pakt zu schließen wie mit Leverkühn. Das erklärt auch, wie Dylan trotz seiner unsäglich disharmonischen Gesänge immer wieder mit dem Götterliebling Orpheus verglichen werden kann: Der Mann scheint allem Vernehmen nach ein dauermürrischer Ranzbeutel zu sein, seine Musik jedoch entspringt der Motivation der Engel. Die Erkenntnis, die wir von Dylan erfahren, führt nicht zwingend über musikwissenschaftliche Bildung, sondern über die Resonanz im Trommel- und im Zwerchfell.
Ein weiteres Jahrzehnt später verliebte sich in meine schon weit weniger bescheiden gewordene Person ein großes Mädchen von noch viel höherer Schönheit und Intelligenz als die oben beschriebene. Ihr Kuss glich nicht dem Saugen und Blasen auf Dylans wildgewordener Mundharmonika, die er auf seinem eisernen Ständer spielt – bei welcher Wortwahl abermals die Nähe seiner Musik zur körperlichen Liebe auffällt –, vielmehr fühlten unsere Harmonien sich an wie die Gitarre auf Down the Highway. Das ist das vierte Lied auf Dylans Zweiter, der The Freewheelin’ Bob Dylan, die von ihrem Lieblingslied eröffnet wird, und somit in vielfacher Hin- und Rücksicht eine Steigerung davon.
Schon heute praktiziert Dylan mehr als doppelt so lange, wie dem Leverkühn teuflischerseits zugebilligt wurde: Seine erste Platte ist von 1961. Auf zirka 1917 wird Leverkühns oben zitierte “Handschrift” durch Thomas Mann datiert, die ihre absichtsvolle Antiquiertheit außer in der lutherischen Ausdrucksweise in der Beobachtung offenbart:
Er: “Gewiß doch! Wenn einer die gröbsten Mißverständnisse über sich, mehr noch aus Wahrheits-, denn aus Eigenliebe, richtigstellt, ist er ein Maulaufreißer. Ich werde mir von deiner ungnädigen Verschämtheit den Mund nicht stopfen lassen und weiß, daß du nur deine Affecten bei dir verdruckst und mir mit so viel Vergnügen zuhörst wie das Mägdlein dem Flüsterer in der Kirche… Nimm gleich einmal den Einfall, – was ihr so nennt, was ihr seit hundert oder zweihundert Jahren so nennt, – denn früher gabs die Kategorie ja gar nicht, so wenig wie musikalisches Eigentumsrecht und all das. […]”
Man erkennt ohne Vorkenntnis: Der Teufel sagt das. Eher der gewinnende Mephisto denn der schwefelstinkende bäurische Pferdefuß, sagt er dem Leverkühn aufs Haupt zu, wie er ohnehin so ungnädig verschämt und verdruckst zur Liebe unfähig sei, wessenthalb “dir denn auch die Hölle nichts wesentlich Neues, – nur das mehr oder weniger Gewohnte, und mit Stolz Gewohnte, zu bieten haben” werde.
Wie viel anders und, trotz seines mittlerweile zusammengeflossenen halben Jahrhunderts in aktiver Musik und Liebe, wie viel neuzeitlicher die Auffassung von Bob Dylan! Ungnädig und verdruckst wie nicht leicht einer, wacht er eifersüchtig über sein musikalisches Eigentumsrecht, was wir ihm als liebende “Affecte” zu seiner ureigenen Musik gutschreiben wollen.
Nun ist gerade Dylan berüchtigt dafür, keins seiner Lieder je ein zweites Mal genau so spielen wie ein vergangenes Mal. Und mit Verlaub: Einen Gitarrenlauf wie das virtuose Fingergewühl auf Down the Highway erschafft man weder mit der ptolemäischen Naturtönerey noch mit der wenige Jahrhunderte seit Bach zählenden chromatischen Wohltemperiertheit, und am wenigsten mit Zwölfton-Reihentechnik, sondern – sagen wir gut altdeutsch, ohn’ alle Bemäntelung und Gleisnerei, was Sie schon lange ahnen, mit einem modernen Wort: Das entsteht wie Sex.
Kaum jemals hat man Bob Dylan öffentlich lächeln gesehen, außer (1969 auf dem Cover zur Nashville Skyline und) 1973 in Pat Garrett and Billy the Kid, und da war er Schauspieler. Den Soundtrack dazu hat er nie auf Konzerten verwendet, das Knockin’ on Heaven’s Door daraus allenfalls nach seiner alten und immer neuen Weise bis zur Unkenntlichkeit verfremdet. Die CD davon und die Freewheeling war zu Zeiten unserer jungen Liebe der Soundtrack zu unseren stillsten Stunden. Sobald die Musik in ihrer technischen Wiedergabe verstummte, schufen wir Rhythmus und Harmonie selbst. Oft werden das Fingergewühl und die Resonanz im Zwerchfell hörbar. Es ist – und ich übertreibe mit keinem Wort – es ist – und damit sei der Höhepunkt meiner Unbescheidenheit für diesmal überschritten – es ist, sagte ich, ein Privileg, sich so zwischen Leverkühn und Dylan zu begeben und von meiner Frau zu lernen und mit ihr immer alte und immer neue Harmonien zu schaffen. Down the Highway mit all seinem virtuosen Fingergewühl, all seinem unsäglich disharmonischen Gesang, all seinem Saugen und Blasen auf dem – amorabile dictu – Ständer – es ist ein vernachlässigtes Lied.
Herrschaften, ich liebe diese Frau. Wahrscheinlich heißt es deswegen Gitarren-Lick.
Bob Dylan: Love Minus Zero/No Limit, aus: Bringing It All Back Home, 1965: Live-Video; Text.
Fachliteratur: Von meiner ab sofort wieder bescheidenen Person: Warum wir trotz allem Thomas Mann lieb haben; Adrian Leverkühns Krankheit; ferner ein Essay von Karl-Heinz Wollscheid: Personifikationen des Bösen. Hölle, Teufel und Dämonen in der Bibel und in der christlichen Tradition.
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