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Rente mit 173

Es gibt sie noch, die guten Nachrichten. Jedenfalls im “Stil”-Teil der Süddeutschen. Da hat eine gewisse Susann Till aus der Hansestadt Stade vor vier Jahren ein Unternehmen gegründet: Sie kocht Chutneys ein und kann davon leben. Das steht so in Marten Rolff: Das Chutney ihres Lebens, Süddeutsche Zeitung, 7. Mai 2016. Ganzseitig, vier Farben.

Vor vier Jahren. Da war die Dame 69. Und weil das nicht reicht:

Susann Till hatte mehrere Rücken-Operationen, musste zeitweise ein Metallkorsett tragen, dann starb ihr Mann, sie selbst erlitt einen Schlaganfall, lag zehn Tage im Koma, Ärzte rieten zu einer dauerhaften Betreuungseinrichtung, da hatte sie die Sepsis noch gar nicht, die fast zur Amputation einer Hand geführt hätte und erneut Monate der Reha nach sich zog.

Sooo tapfer, das alte Mädel. Lässt sich nicht unterkriegen. Und fängt neu an. Zeigt’s den Hamsterwelpen in der sozialen Hängematte. Und nimmt nicht etwa einem jungen High Potential den Arbeitsplatz weg, sondern hat eine “nur fünf Quadratmeter kleine Küche aus den 70er-Jahren, die einfach weiß übergestrichen wurde”, in der sie locker ihre Arbeitstage von 18 Stunden wegbaggert.

Und vor allem: Hängt nicht zu Hause und schon gar nicht mehr in einem steuerfinanzierten Krankenhaus rum, sondern ist inzwischen 73 und bringt ihr eigenes Geld heim, statt das Geld des High Potentials seit zehn, wenn nicht gar zwanzig Jahren ins Wirtshaus zu tragen. Kocht Chutneys ein und muss — halt, nein, es muss heißen: und kann von ihrem Start-up leben.

Unsereins, privilegiert genug, um sich nicht etwa an eine Zeit des Komas, sondern nur, schlimm genug, an eine Kindheit zu erinnern, wurde seinerzeit traumatisiert von Vergleichen mit Wunderkindern wie Heintje, der auch-mal-jungen Mireille Mathieu, der von Almsick, der mit ihnen einhergehenden Beobachtung, dass man selber ja gar nichts könne, und nachfolgenden Aussagen wie “Was jetzt, Klavier spielen willst’? Ich werd dir gleich a Klavier gebm”, “Eislauf? Du willst, dass ich dir jeden Winter neue Schlittschuh kauf? A Schelln kannst ham”, “In an Sportverein willst’? Muss ich dich do wieder regelmäßig hin- und herkutschen?”

Akzeptiert wurden aus ideologischen Gründen der im Kuhdorf ansässige Kirchenchor und Malstudien, weil man Rückseiten von Reklamezetteln und Sparkassenkulis umsonst kriegt. Eine der Rentenpolitik nahestehende Presse, die uns soeben ganzseitig die Erwerbstätigkeit bis ins Greisenalter nach den Altersbeschwerden andient, spendiert mir bestimmt nicht mal “die kniehohen Töpfe, die nebeneinander kaum auf den Herd passen, oder die vielen Kräuterkisten auf der engen Terrasse” (cit. a.a.O.).

Um Gottes willen. Wenn ich je 69 werde und das die Auswahl ist, nehm ich den Schlaganfall.

Ersten Grades themenverwandter Soundtrack: Die Ärzte: Junge, aus: Jazz ist anders, 2007.

2 Kommentare

  1. moritz

    “Um Gottes willen. Wenn ich je 69 werde und das die Auswahl ist, nehm ich den Schlaganfall.”

    ;-)
    Darf ich diesen Satz als Magnetschild auf unseren Kühlschrank produzieren lassen?

    Zu unseren anderen Magnetschildern:

    “Hinfallen.
    Krone richten.
    Weitergehen.”

    “Ich fühle mich, als könnte ich
    BÄUME AUSREISSEN!
    Also kleine Bäume. Vielleicht Bambus.
    ODER BLUMEN. NA GUT.
    Gras. Gras geht.”

    • Wolfster

      Schlaganfall und Koma sind jedenfalls schneller vorbei.

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