——— Dorothee Sölle:
frei nach Brecht
aus: Sympathie. Theologisch-politische Traktate, Kreuz Verlag, Stuttgart 1978, Rückentext:
meine junge tochter fragt mich
griechisch lernen wozu
sym-pathein sage ich
eine menschliche fähigkeit
die tieren und maschinen abgeht
lerne konjugieren
noch ist griechisch nicht verboten
Wer egal was für eine Sprache studiert hat, ist Kummer gewohnt — vor allem die ständige Verteidigungshaltung gegen den Vorwurf, was man denn jetzt wolle mit seinem Abschluss in Lesen und Schreiben, weil man sich von einem unfallfrei gelesenen Goetheband keinen Schweinsbraten runterschneiden kann.
Kurioserweise trifft dergleichen immer nur Geisteswissenschaftler. Dabei musste ich bisher weder lückenlos einen der inkriminierten, offenbar schwer volks- und wirtschaftsschädlichen Goethebände lesen, schon gar nicht unfallfrei, andererseits ist mir kein Fall eines Naturwissenschaftlers bekannt, der jemals außerhalb seines Bildungsbetriebs eine Kurve diskutieren musste. Und hat ihn schon mal ein Linguist deswegen angemault?
Zur wirklich schwärzesten, unredlichsten Rhetorik zählt der Kniff, eine valide Aussage als beweiskräftige Tatsache ins Feld zu führen, gegen die dann widersprochen werden muss, wodurch sich der Gegner zwingend zum Wahrheitsleugner macht; Schopenhauer hätte sich die Hände gerieben. Nein, natürlich pflege ich meinen Schweinsbraten nicht von sinnlosen Goethebänden abzuschneiden; nein, natürlich können nicht “alle” sechseinhalb Milliarden Erdbewohner, denen es schlechter als “uns” geht, “zu uns” dahergeflüchtet kommen, und nein, natürlich ist “Griechisch nicht verboten” (cit. Sölle, D., 1978, siehe oben). Die Frage ist immer, was mit der Aufmerksamkeit auf solchen Binsen bezweckt werden soll.
Und jetzt beobachtet Susanne Gaschke in der Welt vom 16. August 2016 unter Lernt Altgriechisch!:
Jetzt aber bewegt sich die Welle weiter. Politiker sind böse, ja, klar; Journalisten lügen, auch klar; die neuesten Verdächtigen sind: Akademiker im Allgemeinen. Ein Teil des Brexit hatte nichts mit der EU zu tun, sondern war eine Grußbotschaft an die “Eliten”. Schandbar von dem Eton- und Oxford-Boy Boris Johnson, dabei mitgemacht zu haben! Man hat auch nicht gehört, dass Donald Trump den Intellektuellen besonders freundlich gesonnen wäre. Und deutsche Pegida- und AfD-artige Onlinekommentare sprechen eine deutliche Sprache: Kunsthistoriker, Germanisten und andere Geisteswissenschaftler liegen dem Volk auf der Tasche!
Ach Leute. Ja, ich hab Germanistik. Und ich arbeite gegen Lohn, seit mir ein gefühlloser Mensch vom Hersbrucker Finanzamt mit 16 Jahren ungebeten meine erste Lohnsteuerkarte mit der Post geschickt hat. BAföG hab ich nie bezogen. Meine Eltern haben mich über Zeit bei sich in ihrer nachmaligen Abstellkammer hausen lassen, damit sie mich nicht noch anderweitig unterstützen mussten, das war’s mit dem Auf-der-Tasche-Liegen.
Und jetzt mal andersrum: Am Lagerfeuer waren es doch immer die BWL- und Jura-Kandidaten, die sich zu schade waren, sich die Fingerchen an Gitarrensaiten zu ruinieren und ihre wertvolle Freizeit mit dem Auswendiglernen von Bob-Dylan-Liedern (Text und Akkorde) zu verschwenden, geschweige denn jemals den Versuch zu unternehmen, selber ein Lied zu schreiben. Heute sind genau BWL und Jura — und Bauhilfsarbeiten — die Inhalte, die ich neben meiner germanistischen Ausbildung für den täglichen Gebrauch von selber draufhaben muss. Wer liegt jetzt wem auf der Tasche, ihr Volk?
Einigen wir uns darauf, dass ihr über “operatives Geschäft” schwallen dürft, sobald da einer arbeitet, und ich über “Distichen”, wenn genug Daktylen zusammenkommen, ja? “Und das Liebste mag’s uns scheinen / So wie andern Völkern ihr’s.” — ebenfalls “frei nach Brecht” (cit. Sölle, D., 1978, siehe oben) — und dass keiner davon gescheiter wird, Entschuldigung: Kompetenzen erwirbt, indem er einfach nichts lernt.
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