Es folgt mein alljährliches Geläster über die Frankfurter Buchmesse.
Longtemps je me suis couché de bonne heure.
Das französische Autobahnnetz ist so lang wie ein Satz von Marcel Proust, aber sehr viel langweiliger und obendrein gebührenpflichtig.
Catherine Meurisse, Süddeutsche Zeitung Nr. 233,
Literatur-Teil, Dienstag, 10. Oktober 2017, Seite 1.
Man fasst es ja nicht, was in einem Jahr, in dem Frankreich Gastland auf der Herbstbuchmesse ist, ein dahinsiechender Literaturbetrieb noch aus einem 104 Jahre alten Buch rausholen kann: Die 1953er Übersetzung — zum 40-jährigen Erscheinen — von Eva Rechel-Mertens, die Generationen hypersensibler Sozialphobiker zu dem gemacht hat, was sie sind, hat endlich einen Anmerkungsteil — und ist bereinigt von angeblichen Übersetzungsfehlern, weil keinem mehr klar ist, dass eine “Person” vorwiegend weiblich, aber etwas anderes als ein “Mädel” ist — dabei war Dr. Rechel-Mertens Brandenburgerin und wusste wahrscheinlich selber nicht einmal, wann es “das Mensch” heißt.
Und die 2013er Übersetzung — zum 100-jährigen Erscheinen — von Bernd-Jürgen Fischer ist in einem stark zeitversetzten Kopf-an-Kopf-Rennen mit der Rechelin ebenfalls nach vier Jahren fertig und schon als Taschenbuch-Gesamtklotz lieferbar — dafür mit noch mehr Anmerkungen und einem zusätzlichen Handbuch, das — wenn schon, dann richtig — gleich den dicksten von 8 Bänden abgibt. — Ein 104-jähriges Buch wohlgemerkt, in dem es 5000 (jawoll: fünftausend) Seiten lang hauptsächlich darum geht, dass vor einem Menschenalter ein kleiner Bub mal einen Keks in Tee getunkt hat. In Lindenblütentee!
Im Direktvergleich hat Fischer den sprichwörtlich gewordenen ersten Satz “Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen” dem Buben gelassen, dafür “schloss” er jetzt die Augen, statt dass sie ihm, übrigens gleich im ersten Absatz, “zufielen”, weil das wegen fermer wörtlich richtiger sein soll, obwohl es um den Schlaf und nicht seinen großen Bruder geht. Solche Skandale häufen sich auf den folgenden 4999 Seiten.
Weil es Buchmesse heißen und deshalb immer um harte Kosten-Nutzen-Rechnungen gehen muss: Der ICE von München nach Frankfurt ist länger als ein Satz von Marcel Proust, aber seit dem Unwesen mit den Schallschutzwänden sehr viel langweiliger und praktisch nicht unter 89,90 zu haben, die anderen Versionen kosten 125,90 und brauchen länger — und zwar einfache Fahrt. Pro Sitz-, wenn nicht gar Stehplatz. Das macht zu zweit 503,60, falls Sie jemals wieder nach München wollen. Ach ja: plus vier ICE-Zuschläge, gell? — Den Rechel-Mertens-Proust gibt’s momentan ab 42,48 und in jeder — wirklich jeder — Stadtbücherei dauerhaft umsonst. Von dem haben Sie länger als sechs Stunden was, und Sie dürfen sich dazu hinlegen, ohne dass ein Großraumwaggon voller rasierwassergetränkter Rollkoffermännchen blöd herschaut.
Und Weihnachten ist auch gleich wieder, genau deswegen ist ja Buchmesse. Für mich bitte einmal die revidierte Rechel-Mertens: Suhrkamp 49,95 statt Reclam 148.
Bookporn: Bookshot, 20. September 2017:
Bonus Track: Carla Bruni: Quelqu’un m’a dit, aus: Quelqu’un m’a dit, 2002:
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