Auch den Sisyphos sah ich, von schrecklicher Mühe gefoltert,
Einen schweren Marmor mit großer Gewalt fortheben.
Angestemmt, arbeitet’ er stark mit Händen und Füßen,
Ihn von der Au aufwälzend zum Berge. Doch glaubt’ er ihn jetzo
Auf den Gipfel zu drehn: da mit einmal stürzte die Last um;
Hurtig mit Donnergepolter entrollte der tückische Marmor.
Und von vorn arbeitet’ er, angestemmt, dass der Angstschweiß
Seinen Gliedern entfloss, und Staub sein Antlitz umwölkte.

——— Hans-Ulrich Treichel:

Sisyphos’ Dementi

Der Berg auf dem ich wohne
ist nicht so hoch wie ihr glaubt.
Er ist gar kein Berg.
Und der Stein war schon bald
nur noch der Rest eines Steins.
Vor ein paar Jahren ist er mir
in den Ausguß gerutscht.
Seitdem sitze ich hier
und gebe Erklärungen ab.
Alles andere ist falsch.

Und schon seit 1942 ist derselbe Sisyphos als glücklicher Mensch vorzustellen, denn “der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen.”

Sinnstiftende Arbeit ist eine Quelle des Glücks, soweit richtig, dazu hätte es nicht einmal eines bemüht originellen “Essai sur l’Absurde” von Camus bedurft. Sisyphos’ glücklichster Umstand war allerdings, dass er im 14. Jahrhundert vor Christus als König angefangen hat — als Großkapitalist von zahlreicher Götter Gnaden also vermutlich keinen Mangel an Produktionsmitteln litt.

Wofür er ihn genau bestraft, hat sein ungnädig gewordener oberster Vorgesetzter Zeus in mythologischem Dunkel gelassen, wofür er mit seiner olympischen Seilschaft seine Gründe haben wird: War schon der Fall Aigina etwas zwischen Whistleblowing und Beihilfe zu einer frühen #MeToo-Debatte auszulegen, hat den gleichen Trick wie Sisyphos, den Tod abzufüllen, um ihm zu entrinnen, ab 1871 noch der Brandner Kaspar gebracht. Es läuft also alles auf übergroße Schläue, systemgefährdende Verschlagenheit, mithin fortgesetzte Insubordination hinaus.

1942 war er im Zuge des Existenzialismus statt König nur noch “glücklich”, 1988 singt er bei Fred Portegies Zwart schon das Lob des Steines. 1992 wäre ihm der ach so sinnstiftende Felsbrocken fast auf dem Gipfel liegen geblieben, bei Günter Kunert schubst er ihn persönlich wieder zu Tale — damit er seine Arbeit behält: nach 3400 Jahren ein neuer Akt der Subversion, aber bei weitem nicht mehr königlich, sondern eindeutig proletarisch. Bei Robert Garioch hat Sisyphus (bei dem Schotten mit lateinischer Endung) schon nichts anders mehr denn seine inzwischen als sinnlos anerkannte abhängige Beschäftigung und “wankt hinterdrein: seines Einkommens jedenfalls sicher.”

Vollends zum Revolutionär wird der abgehalfterte König Sisyphos, wenn die “gegenseitige Abnutzung von Mann Stein Berg” ins Spiel kommt, denn “niemand”, so Heiner Müller in: “Traktor”, 1975, “bewegt auf einer Fläche nichts.” Hatte Sisyphos bei Erich Fried 1967 noch Angst vor ebenjener Abnutzung, fällt ihm bei Manfred Jendryschik in “Die bekannte Situation” ein, dass ein genügend handlicher Stein als Waffe taugt — gegen wen wohl? Das ist um einige, nun ja: Klassen revolutionärer, verschlagener und gewaltbereiter als Brecht im “Lob des Kommunismus”:

Das Einfache
das schwer zu machen ist:
Den Stein endlich zurückrollen lassen
wohin er gehört.

Das kommt daher, dass in der DDR sich die Arbeiter und Bauern gern als die “tüchtigen Söhne Sisyphos'” verstanden, und wir wissen, wie die DDR samt ihrem Kommunismus geendet ist. — Bisher waren alle Fortführungen und Neuinterpretionen reine Schöpfungen des 20. Jahrhunderts.

Im Postkapitalismus arbeitet Sisyphos an seiner Erlösung. Nicht etwa, indem er seine Situation zu ändern sucht oder auch nur als Last empfindet, vielmehr indem er schneller und effizienter seinen Brocken über ansteigende Herausforderungen bollert und sich damit motiviert, dass er ja ständig neue Gipfel erreicht. Wenn er sich gut führt, richtet Zeus — oder einer seiner Titanen — ihm eine besonders geeignete Rollerbahn ein, mit der er dreimal so schnell seine Milestones killt.

Sisyphos muss für jeden Aufstieg eine Summe Geldes bezahlen. So beteiligt Zeus ihn an seinem Erfolg: Sisyphos ist kein bestrafter Zwangsarbeiter mehr, sondern sein eigener Herr, schließlich ist er mit der Qualifikation König eingestellt. Außerdem wachsen Rollerbahnen nicht gratis auf Felsenböden und schaffen Arbeitsplätze. So sieht Sisyphos am leichtesten den Sinn seiner Arbeit ein: Geld.

So gesehen war die erklärt absurde Deutung von Camus doch die revolutionärste: Sisyphos ist als glücklicher Mensch denkbar — wenn er nicht mehr da ist.

Fachliteratur: Bernd Seidensticker, Antje Wessels (Herausgeber): Mythos Sisyphos, Reclam Leipzig 2001.

Soundtrack: Hannes Wader: Dem Morgenrot entgegen,
aus: Hannes Wader singt Arbeiterlieder, 1977:

Die Arbeit kann uns lehren,
sie lehrte uns die Kraft,
den Reichtum zu vermehren,
der unsre Armuit schafft.

Bonus Track: deutsch-russische Punkversion 2013 von Kapelle Vorwärts,
aus: Solidaarisuus.