Ich sehe, dass die westliche Linke auch angesichts des «Unvorstellbaren» tut, was sie seit jeher am besten kann: sie untersucht den amerikanischen Neo-Imperialismus und die Expansion der NATO. Doch das reicht nicht mehr, weil es die Welt nicht erklären kann, die aus den Ruinen des Donbas und des Hauptplatzes von Charkiv entsteht. Diese Welt lässt sich durch den Verweis auf Handlungen der USA und entsprechende Gegenreaktionen nicht erschöpfend erfassen. Sie hat ein Eigenleben gewonnen, Europa und die USA sind vielerorts nicht mehr in der Initiative. Ihr forscht den entferntesten Ursachen nach, anstatt die gegenwärtig aufkommenden Tendenzen zur Kenntnis zu nehmen.
Daher frappiert mich die verkürzte Weise, in der ihr das dramatische Geschehen in unserem Erdteil öffentlich darstellt, das ihr lediglich als Antwort auf die Umtriebe eurer eigenen Regierungen und Wirtschaftseliten begreift.
Respekt: Ab 20. März (2022, nehm ich an) muss man “fast überall” keine Schutzmaske mehr tragen. Durchtriebener kann man quengelige “Querdenker” nicht verleiten, endlich ihr Gesicht einzutüten, ohne sich sofort unter Gefahr von Folgeschäden von ihnen anhusten zu lassen. Gestorben wird ja seit Wochen an der Ostfront, und wie man hört, gehen sie sogar freiwillig “rüber in’ Osten“. Meine letzte Maske leg ich erst zu den Akten, wenn ich verstanden hab, wie man den Graphen für die Inzidenzen selber so zurechtstaucht, dass er eine äußere Wirklichkleit abbildet. In den Corona-Statistiken, mein ich, nicht im ukrainischen Bodycount. Außer Vermummung wird auf einmal wieder illegal. So frei ist das Land allemal, dass man sich wenigstens theoretisch aussuchen darf, woran man sterben will. Bis dahin kann man weiter seine letzten Kröten für “Mehl, aber auch Reis, erneut Toilettenpapier, Küchenrollen und kurioserweise Sonnenblumenöl” an die NATO paypallen und sich großmächtig links dabei vorkommen. Man sollte.
Das lässt ja auch tief blicken, was der deutsche Kriegskonsument von Künstlervolk hält, zumal von ausgebildeten Schauspielern. Bei Wolodymyr Selenskyj, den man sich unglückseligerweise fortan merken muss, hat man sich erst gewundert, wieso ein fertiger Jurist sich ans Schauspielern, Synchronisieren und Moderieren von Kasperlkram wegschmeißen kann, und dann, dass er’s nicht nur zum Regisseur und Produzenten – das sind doch die mit der Kohle, oder? – gebracht hat, sondern zum f***ing Präsidenten von Kleinrussland.
Und wenn er’s gesagt hat, glaubt’s ihm bis heute keiner: weil er das so will.
Oder wie darf ich die Bilder von dem überaus schätzbaren Manne, die ausnahmsweise nicht von aktuellem Kriegsgeschehen handeln, sonst auffassen, wenn nicht als Misstrauen gegen und Entsetzen über jemanden, der sich mal in einer rosa Ganzkörperkluft hat filmen lassen? Erst den Hanswurst machen, weil er sich als Anwalt zu fein ist, und dann die Welt retten – so wörtlich verstanden wie nie?
Und wenn ich’s sag, glaubt’s wieder keiner: Gerade deswegen.
Gerade einem herumgetingelten Künstler ist bedeutend eher zuzutrauen, seinen Charakter gebildet zu haben, als einem, sagen wir klischeehalber, BWL-Abbrecher, der “in der Politik” gerade mal seine “Chancen nutzen und Risiken minimieren” gelernt hat. Der musste sich schon mal selber was einfallen lassen, siehe auch unter: selbstständiges Denken, und weil er schon mal am eigenen Leib und Leben seiner Lieben gemerkt hat, wie sich eine Krise anfühlt, und aus welcher man unter Umständen wieder rauskommt und aus welcher nicht.
Wider die defamatorische Darstellung von Berufsständen, vor allem von Künstlern. Oder haben Sie sich in finsterer Stunde – in jüngstem Fall vor kurzem, als noch Ausgangssperre “wegen Corona” war – an Anwälte und Büchsenmacher gewandt? Oder an Künstler?
Und bevor einer davon anfängt: Nein, weder bin ich ein ausgebildeter Künstler noch will ich mit Herrn Selenskyj tauschen. Der scheint das einzige Glück zu sein, das sich die Ukraine seit langem eingehandelt hat. Falls ich genug Krieg konsumiert hab. Und falls er zum Zeitpunkt der Niederschrift noch lebt.
Soundtrack: Joachim Witt & Peter Heppner: Die Flut, aus: bayreuth eins, 1998:
Im Garten brechen die Schneeglöckchen aus dem Boden und die Palmkätzchen aus den Weidenästen. Im Februar. Wie schnell man sich an den Klimawandel gewöhnt hat.
Ohne korrekt verankertes FFP2 unter Virenmutterschiffen und geldwerter Arbeit in einem Büro nachzugehen, das nicht das eigene Home-Office ist, fühlt sich befremdlich an. Wie gründlich man sich an eine Seuche gewöhnt hat, die niemand mehr ausrotten will.
Am ersten Tag des dritten Weltkriegs scheint die Sonne. Man wird sich an den Galopp der Inflation gewöhnen.
Soundtrack:: Владимир Владимирович Путин: Blueberry Hill, 1940, in: The Singing Hill, 1941, Aufnahme ca. 11. Dezember 2010:
History, Stephen said, is a nightmare from which I am trying to awake.
Zwoter Zwoter Zwanzigzwozwo: 100 Jahre Ulysses von James Joyce. Das sind die historischen Ereignisse, die wir brauchen. Wer mal bis zur Puffszene durchgehalten hat, weiß, dass sowas schon verstörend genug ist.
“Mr. Joyce, was haben Sie während des Ersten Weltkriegs gemacht?”
“Ich habe ‹Ulysses› geschrieben. Und was haben Sie gemacht?”
Als Soundtrack beliebt einem Spotify mit der Musik, die in Ulysees vorkommt, der Musik, die während dessen Lektüre zuträglich sei, und der Musik, die sich auf Werk und/oder Autor bezieht, auch ohne meine laienhaften Vorschläge den Bildschirm einzubranden; Frank T. Zumbach fürs Jahrbuch der Zürcher James-Joyce-Stiftung 2022 (Veröffentlichung anstehend) kommt auf etwas zwischen 350 und 400 Lieder, auf die über die 1014 Seiten (Wollschläger-Übertragung als Suhrkamp-Taschenbuch 1981) zumindest Bezug genommen wird. Wenn einem das avantgardistische Lesen zu blöd wird, kann man also tagelang Spotify vor sich hin leiern lassen und immer noch sagen, man habe sich eingehend mit Ulysses beschäftigt. Das Sozialprestige für solchen Ehrgeiz sollte seit 1922 stark nachgelassen haben – aber immer noch besser als Kriege anzetteln.
Drama film loosely based on James Joyce’s 1922 novel: Fred Haines & Joseph Strick: Ulysses, 1967, Dubliner Originalschauplätze, Oscar-Nominierung für adaptiertes Drehbuch:
Und jetzt, während dieser Eindruck in mir wuchs, kam schließlich das Grauen – Grauen in einem Maße, wie keine Worte es vemitteln können. Trotzdem behielt ich meinen Stolz, wenn nicht sogar Mut, und in Gedanken sprach ich zu mir: “Dies ist wohl Grauen, aber es ist nicht Furcht; solange ich mich nicht fürchte, kann mir nichts geschehen; meine Vernunft bestreitet die Existenz dieser Erscheinung, es ist eine Illusion – ich fürchte mich nicht.”
Als Multiple choice chronologisch zum Ausdrucken und Ankreuzen:
□ E. A. Poe, 1842
□ E. G. Bulwer-Lytton, 1856
□ H. P. Lovecraft, 1926
Googeln müsste nach meiner Stichprobe zwecklos sein, ich hab den Klotz noch papierförmig.
Wer richtig liegt, darf sich in der Konditorei seines*ihres Vertrauens eine Torte seiner*ihrer Wahl kaufen. Buttercreme! Marzipan optional, wenn dabei steht, wo es her ist! Der Einsendeschluss ist nach hinten offen.
Soundtrack des Grauens: Bridge City Sinners – Devil Like You, aus: Unholy Hymns, 2021:
Zuzeiten schleiche ich mich unerkannt aus meinem Palast und mische mich ins Gewimmel der Gassen, um zu erfahren, wie das Volk über mich denkt.
Schmarrn, in der Kneipe war ich. Gar nicht so einfach unter Pestbedingungen, zum ersten Mal im Leben bin ich aus einem Wirtshaus rausgeflogen, bevor ich gescheit drin bin. Und da muss ich ja keine Namen nennen, das war bestimmt korrekt. Es reicht nämlich nicht, dreimal geimpft zu sein und es mit drei Einträgen samt Aufkleber in einem altehrwürdigen Impfbuche sowie einem Farbausdruck, der von einem promovierten Pharmazeuten erstellt wurde, nachzuweisen. Vielmehr muss der Nachweis auf einem Telephon gespeichert sein. Den Personalausweis dazu hätten sie als Plastikkarte genommen.
Leider bin ich nicht interessiert an Telephonen, auf denen ich Anwendungsprogramme speichern soll. Nix Ideologisches, mir ist bloß nie ein geldwerter Sinn davon eingeleuchtet, dass mein Handy mich unterwegs mit Unfug belästigt, der mir schon daheim zu blöd ist. Endlich weiß ich ihn, den geldwerten Sinn: So sortieren sie die Hungerleider aus, die sich nicht mal ein Smartphone leisten können. Dann hat man bloß die Freibiergesichter rumsitzen und saufen, statt dass sie nach Bezahlung eines Krabbenbaguettes von vorgestern den Platz für die nächsten räumen. Entweder “Essen” naushauen oder “Gäste” naushauen.
Nebendran beim Atzinger gilt das geschriebene Wort, jedenfalls die Abkürzungen auf einem Aufkleber in einem Impfbuch. War halt doch mal eine Studentenkneipe, wo ich im letzten Jahrtausend mal drin war, kann aber heute nicht mehr sein bei einer Öffnungszeit von 17 bis 22 Uhr. Fürs Protokoll sind das noch die angenehmeren Zustände vor der Omikron-Wellenkrone 2022.
Zuzeiten schleiche ich mich unerkannt in meinen Palast und verdrücke mich ins Bett, um die Erfahrung noch ein Weilchen hinauszuschieben, wie meine Frau über mich denkt.
Ein Paket mit den Ausmaßen von 120 cm x 60 cm x 60 cm bis 31,5 kg kostet auf dem Stand von Weihnachten 2021 gerade mal 16,49 Euro Porto. Das ist die Hälfte von einem Bayernticket, mit dem Sie Ihre eigene werte Person zu einer Familienweihnachtsfeier verfrachten müssten. Und dafür kriegen Sie 63 Kilo Altpapier los, wenn Sie’s als Weiterreichen Ihrer Bücherschätze ausgeben.
Wiegen Sie mehr als 63 Kilo? Dann wissen Sie ja, was Sie Weihnachten anfangen.
Soundtrack: George Harrison: My Sweet Lord, aus: All Things Must Pass, 1970, restauriert und mit taufrischem Video, 2021. Keine Ahnung, für wen das spricht, dass ich an den darin auftretenden Prominenzen gerade mal Weird Al Yankovic und Kate Micucci ungestützt erkannt hab:
Beim Versuch, mal wieder einer Performance der schätzbaren Marina “The Artist is Present” Abramović beizuwohnen, bei der schätzbaren Christine “Birte Schneider” Prayon gelandet; noch während der Präambel weggedöst. Beim Aufwachen hat sie immer noch gelesen.
Aus einer Kleinstadt zu stammen muss ein verbreitetes Schicksal sein; besteht Deutschland ja zur Hauptsache nicht aus seinen paar Metropolen, sondern aus der endlosen Steppe dazwischen, die im unbeholfenen Jargon der Eingeborenen (“Deutsch“) Provinz heißt.
Wenn man schon zwischen Stadtkindern und Landeiern unterscheiden muss, ist man als gebürtiger Kleinstädter in urbanen Umgebungen immer der einzige, der die Leute fragt, ob sie bei den Schützen oder bei der Freiwilligen Feuerwehr sind, und auf dem Land der einzige, der seit Jahrzehnten mit keinem Luftgewehr mehr geschossen hat, nicht am Motorengeräusch erkennt, dass in sieben Minuten der Metzen-Willi seinen Birngeist vorfinden will, und in der Stube rückwärts über den schlafenden Hund stolpert.
“Kann man”, fragt Vroni, “kann man das nicht auch so sehen, dass man auf dem goldenen Mittelweg geboren ist und sein Leben lang aus the best of two worlds besteht?”
“Warum gibt’s im Wald kein Corona?” fragt die Frau neben mir, während sie mit den Baukastenteilen eines COVID-19-Schnelltests herumnestelt. Nicht dass ich sie gekannt hätte.
“Tapfer, tapfer”, sag ich, “ungeimpft, aber immer noch fremden Leuten Witze erzählen.”
“Weil die Bäume alle Zwei-Ge haben”, löst sie auf.
“Au weh zwick, Sie sind wirklich Schmerzen gewohnt”, sag ich, “und Booster shot schreibt sich auf Englisch Borcestershire shot, gell.”
“Schwein gehabt”, sagt sie und hält triumphierend ihren Schnelltest in die Höhe, “wieder nicht schwanger.”
“Sind Sie sicher”, sag ich, “dass Sie den Abstrich aus der Nase genommen haben?”
“Nase?” sagt sie, “verdammt, dann hab ich das falsche Youtube-Tutorial erwischt.”
Vielleicht sind Impfverweiger*innen ja auch bloß Menschen.
Soundtrack: Hurray for the Riff Raff: I Know It’s Wrong (But That’s Alright), aus: Small Town Heroes, 2014:
Der erste Vogel kam geflogen, Bevor die Blumen blühten. Und ich streife über Wiesen, Weil sich’s weich verweilt auf diesen — Lauer Wind streicht durch die Blätter Ringsumher.
Herbst
Alle Vögel sind verzogen Wohl in den heißen Süden. Unaufhörlich muss ich niesen, Weil die Fenster nicht mehr schließen — Rauher Wind treibt braune Blätter Vor sich her.
Vroni meint: “Wieso ‘Die Blätter’? Wieso nicht ‘Der Wind’ als handelndes Subjekt?
Kommentare