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Kategorie: Musik (Seite 2 von 4)

Eine Lanze für Destiny Hope Cyrus

“Fan” wäre jetzt übertrieben — aber dann ist mir doch etwas aufgefallen, bei dem man kurz schluckt: Man suche die Backyard Sessions von Miley Cyrus auf: Die Stimme ist geboostet, aber ihr übliches “Wäh, ich bin so ein böses Mädchen”-Gehabe hat die gar nicht nötig:

Die englische Wikipedia führt Frau Destiny Hope Cyrus als “vocal, guitar, piano”, dabei ist der Fratz gerade 25 geworden. Außerdem ist sie aus Nashville als Tochter eines praktizierenden Countrymusikers gebürtig — und weil ihre gute Fee zum Quartalsende alle guten Gaben loswerden musste, die Patentochter von Dolly Parton.

Auf der Brennsuppe dahergeschwommen sieht anders aus, die junge Destiny Hope war zum Berühmtwerden geboren. Daddy heißt Billy Ray Cyrus, ist im Geburtsjahr seiner nachmals berüchtigten Tocher 1992 mit dem mittelwichtigen Evergreen Achy Breaky Heart (dt.: “Ächzi Brechzi Herz”) hervorgetreten und

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Sann end fann

Als ich noch ein Gefangener der Kneipen war — keine Angst, gegen regelmäßige Kautionen war ich Freigänger — war ich womöglich noch leichter zu erheitern als heute. Aus einer meiner zuständigen Kneipen erinnere ich mich an einen Spielautomaten, vulgo Bierfilzlesroulette, der aller fünf Minuten eine fiese eingängige Melodie füdelte, aller 30 Minuten in einer Art Maxi-Version. Dann pflegte er seine schönsten Blinkermuster herzuzeigen, damit auch ja jeder herschaute, um vielleicht mit ihm spielen zu kommen. Der Zockertyp war ich noch nie, darum war das immer der Moment, von meiner hochwichtigen Schreibarbeit aufzublicken und das Display zu beobachten. Darüber lief dann immer der Schriftzug: “SUN UND FUN”.

Eben nicht “Sun and fun” oder so. Sondern als ob man es genau so aussprechen müsste, ungefähr in Landnürnberger Betonung: “Sunn und Funn”. Die Bedienung war daran gewöhnt, wie ich mir jedes Mal das Lachen ob eines fränkisch sprechenden Spielautomaten verbiss. Einmal wollte ich ihr meine ständig neue Erheiterung nahebringen. Leider war sie keine Linguistin.

Und gerade gestern hab ich keine Kamera dabei und sehe ein kreidegeschriebenes Gaststättenschild: “LUNCH UND BRUNCH”. Gut, dass mir das erst nach meiner Kneipenentlassung passiert. Ich bin schnell weiter.

Soundtrack: Meiner leider etwas verschwommenen Erinnerung nach das letzte Lied, das ich gegen 1990 gegen Bargeld in einer Musikbox gewählt hab — wegen des hinterfotzigen Doppelsinns, den man erst besoffen überhaupt mitkriegt: Ringsgwandl: Radlmare, aus: Das Letzte, 1986. Hat’s das echt je als Single gegeben oder beziehen Kneipen Special Bierfilzl Releases?

https://youtu.be/cdVy9ISBM1Y

150 Jahre sind alt genug

Frank Zander konnte man schon immer albern finden, aber was den bis heute berüchtigten Bestand an Schlagersängern nach 1970 angeht, hatte man bei dem nie so das Gefühl, der wird doch von der CDU bezahlt.

Ein großer Moment in der trüben deutschen Musikgeschichte der Siebziger war … nein, nicht seine Phase als “Fred Sonnenschein”, auch wenn Hugo Egon Balder als Hamster Fritz mitsingt — sondern seine Platte Donnerwetter 1979. Da war nämlich Captain Starlight drauf.

Von dem Lied hat sich jemand einiges versprochen, es wurden nämlich Versionen auf Deutsch und Englisch, mit und ohne Intro erstellt. Man kann bemängeln, dass es nach dem damaligen Weltraum-Hype schon zu spät kam (der erste Star Wars war 1976), aber Peter Schilling ist mit seinem “völlig losgelösten” Major Tom auch erst 1983 nachgerückt. Dass er einen überschätzten Kubrick-Film elf Jahre zu spät veralbern wollte, hab ich zweifellos schon als “Krieg der Sterne”-Verweigerer in der fünften Klasse gemerkt, weil schon immer auf der Hand lag, dass Kubrick ausschließlich überschätzte Filme gemacht hat.

Das Intro von Captain Starlight vom grunddeutschen Frank Zander hatte dagegen Größe. Ein Kasperleschlager, der wie selbstverständlich mit einem ausführlichen, nirgends erklärten, ja auch nur erwähnten klassischen Streichersatz anfängt — und auch wieder aufhört, wo gibt’s denn sowas? Ich muss einige Male ziemlich gebannt am Radio geklebt haben, die Fernsehsendungen haben den nämlich grundsätzlich unterschlagen.

Später, mit einigem musikalischen Grundwissen, konnte man von selber draufkommen, dass es ein Streichquartett war. Welches, ein bestehendes oder gar ein eigens von Herrn Zander komponiertes, wusste kein Mensch, und zu Zeiten des Internets war Frank Zander schon ein abgehalfterter Schlageropa für ironisch-nostalgische Rückblicke.

Bis zum 18. Juli 2010, als in einem nerdigen Gitarrenforum jemand wusste: Das ist eine Moll-Version aus dem 1. Satz von Joseph Haydn: Quartett D-Dur für zwei Violinen, Viola und Violoncello, op. 64,5; Hoboken-Nummer III: 63, Werkverzeichnisnummer 860, dem vulgo Lerchenquartett. — Stimmt.

Dass Haydn mit Sicherheit keine Moll-Versionen von seinen eigenen, gar nicht mehr genau zählbaren Streichquartetten in Dur-Tonarten angefertigt hat, macht die Antwort nicht erschöpfender, rückt Frank Zander aber in ein geheimnisvolles Licht: Der hat das bestimmt auch nicht umgeschrieben, weil er gelernter Grafiker ist, und welche vier praktizierenden Saitenkünstler für die Donnerwetter eine musikologische Fingerübung eingespielt haben, sollte man Herrn Zander (Jahrgang 1942, berufsbedingt als trinkfester Raucher einzuschätzen) endlich mal selber fragen. Wer traut sich?

Ich wette nur auf soviel: Es ist h-Moll.

Für den nachweis der musikalischen Verwandtschaft ist das Haydn’sche Lerchenquartett in YouTube ausreichend vertreten. Ich möchte eine eher kleine, anrührend dilettantische Version verlinken, die von den Eleven der Levanger Kulturskole, weil deren Instrumente so schön authentisch verstimmt sind. Außerdem mag ich das hagere Tomboy-Nordmädchen an der ersten Geige.



Und weil die jungen nordischen Kulturschüler offenbar mit Allegro moderato, Adagio und Menuetto. Allegretto – Trio schon ausgelastet waren, Haydn aber seine Quartette noch viersätzig gestaltete, müssen die ausgelernten Kolleginnen vom Four Voices String Quartet Vivace zu Ende spielen:

Und nochmal alle vier Sätze als Playlist vom Attacca Quartet im Zusammenhang:

Bürgerliches Trauerspiel

Der junge Baron bringt’s mit einem Wischer hinaus, das muß ich wissen, und alles Wetter kommt über den Geiger.

Stadtmusikus Miller, Kabale und Liebe, I,1, 1784.

Wann hat das eigentlich angefangen, dass Kunst nichts mehr wert ist? Da kann man weit zurückschauen: Mehr Mammutfilet als für die abgebildeten Tätigkeiten des Jagens und Abschlachtens ist für Konzeption und Ausführung der Höhlenmalereien von Altamira und Lascaux auch nicht rausgesprungen.

Offen feindselig wurde gegen Kunstschaffende erst mit der abendländischen Aufklärung vorgegangen, als sich volks- und betriebswirtschaftlich nachweisen ließ, dass Schamanen eigentlich nur den Arbeitenden das Zeug wegkiffen und Kinder mehr Ideen haben als bezahlte Künstler. Diese Epoche wird derzeit noch perfektioniert.

Beim nächtlichen Studium von YouTube wird das besonders augenfällig, wenn man die Live-Aufnahmen klassischer Musik vergleicht: Bis tief in die 1970-er Jahre bestanden Orchester aus bierbäuchigen Familienvätern mit Hornbrillen, die auf ein ernstzunehmendes Monatsgehalt angewiesen sind, ganz wie der Schiller’sche ehrwürdige Stadtmusikus Miller (Cello). Danach sehen Orchester zunehmend aus wie fernöstliche Mädchenschulklassen.

Dass japanische Schulmädchen Musik machen dürfen, ist an sich noch nicht feindseilig; auf den ersten Blick ist es sogar schön vom Herrn Intendanten, überhaupt welche einzustellen. Es fällt nur auf, dass seit dem Einbruch der Billiglohngeschlechter in die Arbeitswelt die Arbeit nur mehr aus Gewohnheit und zur Eindämmung des Arme-Leute-Gemosers symbolisch bezahlt wird, wenn nicht gar vollends ausgeht. Da rede ich nicht allein vom Kunstschaffen, da macht es nur mehr Spaß hinzuschauen.

Ist es Zufall, dass der Preis für Tonträger mit klassischer Musik im gleichen Zeitraum in bestürzender Weise verfallen ist? Auch das ist für uns Musikverbraucher zuerst einmal schön. Oder ein Schlag ins Gesicht für jeden, der sich einst den Hunderter für die Matthäus-Passion unter John Eliot Gardiner monatelang vom Munde abgespart hat: Die gibt’s nämlich heute als Dreingabe für CD-Boxen, auf denen netto eine Woche der erlesensten Jahrhundertaufnahmen zusammengepackt ruht, um auf Amazon noch einen letzten Zwanziger einzutragen und dann nie wieder angehört zu werden.

Der Eintritt für Live-Konzerte kostet ungebrochen die ein, zwei Hunderter wie in den alten Zeiten, als in einem bürgerlichen Mittelstand in auskömmlichen Mengen Geld verbreitet war. Nun geht weder ein Bürger noch einer, der sich dergleichen leisten kann, in ein klassisches Konzert, da sind zwei- bis vierhundert Öcken schnell weg, und da ist noch nicht mal der Sekt in der Pause mit drin. Für vierhundert kann einer allerdings die verbliebene Klassik-Abteilung vom Müller aufkaufen, jedenfalls die relevanten CDs. Und von denen hat er länger als zwei Stunden was.

Ist doch gut? Ja, zuerst schon — für eine Gesellschaft, denen Kunst nicht einfach nur nichts wert ist, sondern die seit einigen Jahrhunderten gegen ihre Geistesarbeiter vorgeht: durch Aushungern, Verunglimpfen, Ausgrenzen — ein politisch gewünschtes, funktionierendes Mobbing. Eine Gesellschaft, die sich den eigenen Kopf absägt.

Zu den Höhlenmalereien von Altamira und Lascaux wird immer betont, aus welch hochstehender Zivilisation sie nur entstehen konnten. Wenn uns das heute wieder reicht — okay. Jedenfalls hört man von den Leuten aus der Jungsteinzeit weniger Klagen als von den um ihr Leben geigenden Familienvätern und den immer verzweifelt ratlos wirkenden Schulmädchen im YouTube-Orchester. Und in dem gibt’s die Jahrhundertaufnahmen gratis, hurra, zum gleichen Preis wie im Paläolithikum, als die Schamanen legal kiffen und dabei mit den Honoratioren am selben Höhlenbärenfell sitzen durften.

Kann man schon machen. Muss man halt wollen.

Soundtracks: Beethoven: Fünfte, einmal unter Otto Klemperer 1970, einmal unter Chung Myung-Whun 2013:

To all those who have lived and died alone

Update zu Fuck Yes:

Es ergeht Empfehlung für ein einzelnes Lied; vielleicht hilft das gegen den mittlerweile wochenlangen Ohrwurm.

Wie viele Jahrzehnte hab ich jetzt geglaubt, in Wirklichkeit stünde ich auf die baumlange, blasse, burschikose Rothaarige mit Brille, Birkenstockmodell Gizeh und Knabenbrüstchen, die sich kaum aus dem Eck traut, um ihr Augustiner aufzufüllen, und keinen findet, mit dem sie ihr Promotionsthema diskutieren kann, und die ganzen heißblütigen Südgewächse sind bestimmt auch ganz wunderbare Menschen, aber weiter kein Grund, nervös zu werden.

Nach Naturereignissen wie Salma Hayek, Penelope Cruz und jetzt auch noch Lindi Ortega wollte ich vorsichtshalber nochmal nachdenken. Mit dem Ergebnis: Ach so, Kanadierin. Na dann.

Das Video zu ihrem Lived and Died Alone aus Tin Star von 2013 spielt explizit auf der anderen Seite der USA, inmitten mexikanischer Kultur der Trauerbewältigung; es geht nämlich von vorne bis hinten ums Sterben, schlimmer noch: Störung der Totenruhe, wenn nicht gar Nekrophilie. Jedenfalls ist alles denkbar morbid und gerade deswegen besonders tröstlich. Das ist kein Widerspruch, sondern Schwarze Romantik, und funktioniert innerhalb christlicher Kulturen in seiner modernen Form etwa seit 1780.

Außer als Kanadierin versteht Frau Ortega sich als Country-Musikerin, was die engelschöne, komplexe Melodie erklärt. Und dann den Text, ach den Text.

Man versteht Frau Ortega recht gut, Kanadier können von Geburt an mit Mehrsprachigkeit umgehen. Und der Wortschatz bleibt kunstvoll schlicht, allerdings in thematisch ungewohnten Zusammenhängen, die sich keinem Normaldeutschen so selbstverständlich ins Ohr nisten, dass er ohne ein Minimum an Eigenleistung jederzeit mitsingen könnte. Der Text ist online gut auffindbar, aber an allen bisherigen Stellen, die wahrscheinlich eine von der anderen abkopiert sind, in falscher Versaufteilung. Als Mehrwert bringe ich daher erst das Video und dann den Text in merkfähiger, weil lyrisch korrekter Typographie. Falls das Video youtube-typisch verschwindet, lohnt sich jeder Suchaufwand, versprochen; es reicht sowieso nie, es nur einmal laufen zu lassen.

Lifehack 1: Gegen Ohrwürmer hilft auch, die Pippi Langstrumpf zu singen, die überdeckt alles andere.

——— Lindi Ortega:

Lived and Died Alone

from: Tin Star, Last Gang Records, October 8th, 2013:

Love never came easily to me,
there were no fish swimming in my sea.
I resided myself to the fact
that I would always love
never to be loved back.
But that’s okay,
I know some day —

When the sun has set,
I will go dig up the dead,
lift their bodies from their graves,
and I’ll lay them in my bed
to fill their hollow hearts
with all of my broken parts,
and all the love that they were never shown
to all those who have lived and died alone.

I guess I thought it couldn’t really hurt
to search for sweethearts underneath the dirt.
Sure, they may be made of dust and bone
But I will take them home
from their lonely tombstone
to be with me
in the Dead Sea.

When the sun has set,
I will go dig up the dead,
lift their bodies from their graves,
and I’ll lay them in my bed
to fill their hollow hearts
with all of my broken parts,
and all the love that they were never shown
to all those who have lived and died alone.

(Solo.)

When the sun has set,
I will go dig up the dead,
lift their bodies from their graves,
and I’ll lay them in my bed.
I will fill their hollow hearts
with all of my broken parts,
and all the love that they were never shown
to all those who have lived and died alone.

I’d been a girl and one dream frequented my late afternoons

Girl
where did you stay so long
Girl
where did you stay so long
I feel strong
the answer she gave
simply was
I’ll show you where the lilies grow

Die gute Nachricht ist: Sibylle Baier sitzt an einem zweiten Studioalbum. Dem zweiten seit 1973.

Keine Schande, das erste nicht zu kennen. Es hieß Colour Green und wurde von der Künstlerin höchstselbst im Alleingang spätnachts in ihrem Wohnzimmer mit einem Kassettenrekorder und einer beneidenswert gut gestimmten Wanderklampfe aufgenommen. Das war zwischen 1970 und 1973.

Sibylle Baier und Sohn Robby, sibyllebaier.comIn diesen drei Jahren hat Frau Baier 14 Lieder eingespielt, die zusammen nicht ganz 37 Minuten dauern. Im weiteren Verlauf ist sie nach Amerika ausgewandert, hat Kinder aufgezogen und getan, was man so tut im Leben — zum Beispiel einmal für Jochen Richter den Soundtrack geschrieben und einmal für Wim Wenders mitgespielt. Viel mehr weiß man nicht über sie. Offenbar legt sie keinen gesteigerten Wert auf großen Rummel um ihre Person. Eine amerikanische Hausfrau, die als junges Mädchen in Deutschland mal ein paar selbstgeschriebene Liedchen gezupft hat, wird nicht gerade dauerhaft von Paparazzi umlagert, und wozu auch?

Ungefähr 2003 war ihr Sohn Robby schon groß und seinerseits Musiker und konnte aus Mamas alten Kassetten eine CD zusammenbrennen. Wie dieselbe an J Mascis von den Dinosaur Jr geriet, fällt schon unter die feineren Verästelungen im Unterholz des Musikgeschehens. Jedenfalls kam die CD von den Dinosaur Jr ans Label Orange Twin Records und war ab 2006 eine Zeitlang verkäuflich. Amazon.de weiß noch davon, und der wohlgeratene Robby pflegt ihr bis heute die Website.

Anscheinend hat die junge Frau Baier um 1970 viel Pink Floyd gehört, inhaltlich erinnern ihre Lieder stark an die Zeit zwischen Syd Barrett und der Dark Side of the Moon. Die Gitarrenarbeit ist ordentliches Lagerfeuerniveau. Jedes Jahr Warten seit 1973 und jeden Cent wert ist aber ihre Stimme: ungefähr Nico Päffgen, ebenfalls Exildeutsche, von den Velvet Underground, jedenfalls genauso unbeirrbar modulationsfrei. Aber schöner.

Und die schlechte Nachricht? Wer auf eine besteht, kann ja egal wohin anders surfen als zur Playlist von Colour Green, aber davon rate ich ab.

Wenigstens eine mittelgute: Wir müssen jetzt nicht alle gefrustet unsere im Gefolge von Janis Joplin und Hannes Wader vollgesungenen Kassetten vorschriftsmäßig im Plastikmüll entsorgen, es hat nämlich nicht gleich jeder Wim Wenders zum Freund des Hauses. Soviel Trost muss uns unentdeckt Bleibenden reichen.

Bild: Sibylle und Robby Baier gegen 1973.

Mit Blumen, mit verdorrten

Lieber meteorologischer Frühlingsanfang — leicht zu merken: immer am 1. März — als Märzunruhen. — Seit 1849 immer wieder bestrickend sind die beziehungsreichen Pflanzennamen:

——— August Freiherr von Seckendorff:

‘s ist wieder März geworden

März 1848, Erstdruck als August Dorff in: Leuchtkugeln, Verlag von Emil Roller, München, Mitte April 1849, Seite 150 f.:

Alfred Rethel, Allegorie auf die Niederschlagung der Revolution von 1848, 1849, Deutsches Historisches Museum Berlin‘s ist wieder März geworden,
vom Frühling keine Spur.
Ein kalter Hauch aus Norden
erstarret rings die Flur.

‘s ist wieder März geworden —
März, wie es eh’dem war:
Mit Blumen, mit verdorrten
erscheint das junge Jahr.

Mit Blumen, mit verdorrten?
O nein, doch das ist Scherz —
gar edle Blumensorten
bringt blühend uns der März.

Seht doch die Pfaffenhütchen:
den Rittersporn, wie frisch!
Von den gesternten Blütchen —
welch farbiges Gemisch!

Der März ist wohl erschienen.
Doch ward es Frühling? — Nein!
Ein Lenz kann uns nur grünen
im Freiheitssonnenschein.

Seht hier den Wütrich thronen
beim Tausendgüldenkraut,
dort jene Kaiserkronen,
die Königskerze schaut!

Wie zahlreich die Mimosen,
das Zittergras wie dicht!
Doch freilich rote Rosen,
die kamen diesmal nicht.

Bild: Alfred Rethel: Allegorie auf die Niederschlagung der Revolution von 1848, 1849,
Deutsches Historisches Museum Berlin.

Ein Tag mit Glenn Gould

Unterschied zwischen Glenn Gould und Maria Callas? — Bei Glenn Gould hat’s nicht so gestört, wenn er mitsingt.

Haben Sie schon gekannt? Macht nix, ungefähr einmal pro Jahr erzählt den irgend jemand, der sich für den einzigen humorbegabten Kenner klassischer Musik auf Gottes Erdboden hält, und weil man ihn in solchen Abständen regelmäßig wieder vergessen hat, ist der seit mehreren Jahrzehnten für ein wiederkehrendes Grinsen gut. Heuer muss man sich noch öfter drauf gefasst machen, da hat Glenn Gould kurz hintereinander 85. Geburtstag und 35. Todestag.

Wie oft und wie lange Glenn Gould beim Mitsingen ertappt wird, kann man jetzt endlich mitvergleichen, ohne andauernd mühselig die CD zu wechseln (oder gar, wie noch früher, doppelt so oft die Platte umzudrehen): War der einzige Erfolg der weiland Google Videos, die nicht mal mehr einen deutschen Wiki-Artikel haben, dass die Videos dort länger als zehn Minuten sein durften, hat am 27. Juni 2016 ein engagierter Musikfreund mal kurz ein Video mit allen Bach-Aufnahmen von Glenn Gould (oder sollte es heißen: allen Gould-Aufnahmen von Bach…?) auf YouTube gepumpt. Es dauert über siebzehneinhalb Stunden.

Allein die jeden Höreindrucks entkleidete Zahl macht einen erschauern. “Glenn Gould spielt Bach” ist ja geradezu eine eigene Musikrichtung, die jedenfalls mehr Regalmeter auffüllen kann als manche Unterkategorien der Leicht- und Schwermetalle. Wenn da oben “Ein Tag mit Glenn Gould” steht, meine ich auch einen Tag. Einschließlich der Nacht. Die verbleibenden viereinhalb Stunden sind für einen kurzen Nachtschlaf und Stoffwechsel. Oder um weitere engagierte Musikfreunde zur Nachforschung anzuhalten, wie lange es dauert, wenn Glenn Gould mal nicht Bach spielt.

Der Eintritt in die erste Veranstaltung der Elbphilharmonie, für die man überhaupt irgendwelche Eintrittskarten kaufen durfte, hätte übrigens zwischen 19,80 und 91,30 Euro gekostet, “ggf. wenige Restkarten am Veranstaltungstag vor Ort“.

Das Wochenend sollte jedenfalls gerettet sein. Ansprechbar bin ich hinterher wieder. Aber fest versprechen kann ich’s nicht.

https://youtu.be/GokEz4bbZP4

These fascists kill machines

Ich referier das bloß. Nicht dass es wieder heißt, ich erfinde was.

——— Woody Guthrie:

Old Man Trump

Music: Ryan Harvey, 2016; lyrics: Woody Guthrie, 1950, rediscovered 1967:

I suppose that Old Man Trump knows just how much racial hate
He stirred up in that bloodpot of human hearts
When he drawed that color line
Here at his Beach Haven family project.

Beach Haven ain’t my home!
No, I just can’t pay this rent!
My money’s down the drain,
And my soul is badly bent!
Beach Haven is Trump’s Tower
Where no black folks come to roam,
No, no, Old Man Trump!
Old Beach Haven ain’t my home!

I’m calling out my welcome to you and your man both
Welcoming you here to Beach Haven
To love in any way you please and to have some kind of a decent place
To have your kids raised up in.

Beach Haven ain’t my home!
No, I just can’t pay this rent!
My money’s down the drain,
And my soul is badly bent!
Beach Haven is Trump’s Tower
Where no black folks come to roam,
No, no, Old Man Trump!
Old Beach Haven ain’t my home!

Das tut uns leid.

Dieses Video ist in Deutschland leider nicht verfügbar, da es Musik enthalten könnte, über deren Verwendung wir uns mit der GEMA bisher nicht einigen konnten. Das tut uns leid.

Das untrügliche Merkmal wirklich klassischer Zitate ist ja, dass sie oft parodiert und noch öfter falsch wiedergegeben werden. Das Original verschwindet dann aus dem kollektiven Bewusstsein und muss von Bewahrern einer schnell als nerdy wahrgenommenen Kultur in Nostalgie-Gruppen gehortet werden, bis das nächstflachere Telephon rauskommt.

Oben steht die vorläufige Ausgabe “letzter Hand” der YouTubischen Sperrtafel, was kein Widerspruch mehr ist, seit Facebook damit wirbt, dass man seine rassistischen Entgleisungen theoretisch sogar wieder löschen könne. Vorläufer-Versionen sperrten das Video für “dein Land”, was sie geändert haben, seit YouTube die psychologische Kriegsführung gegen die GEMA untersagt ist, weil ungefähr gleichzeitig das faschistische Vokabular im Verliererland sowieso wieder salonfähig wurde.

Wir werden sie vermissen, die Sperrtafeln mit dem Vintage-“Weiß nicht recht”-Emoticon. Die ersten Neuformulierungen “Und da für zaheln wir Gemma??!!!?? Da mal drüber nach denken!!!!!111!!” wurden schon gesichtet.

Denken wir positiv und nutzen die angeblich Tausende von seit den frühen Morgenstunden von Allerheiligen freigeschalteten Videos, solange Sony kein neues Argument einfällt. Eins, das ich lange und durchaus schmerzlich vermisst hab, ist der Beitrag von Wolfgang Ambros zum in den frühen Morgenstunden von Halloween ausgebrochenen Lutherjahr. Es ist von 1979 und war dafür ziemlich zeitig dran. Ich bin leider schon über 30 und dafür ziemlich spät dran. Typisch. Es ist nicht, wie die meisten richtig guten Lieder von Ambros, eine Dylan-Übersetzung; die Kalauer sind echt. Und dafür zahlen wir GEMA.

Sieben Tage, sieben scheußlich schöne Lieder

Facebook kann sogar Spaß machen. Letzte Woche hat mich dort unversehens ein Musikstöckchen ins Genick getroffen: Sieben Tage, sieben Lieder.

Immer nur Sachen zu verbreiten unter dem Ansatz, sie seien “so schlecht, dass es schon wieder gut ist”, wäre natürlich ein garstiges Unterfangen. Mir liegt immer daran zu betonen, dass ich niemals einer Verbreitung Vorschub leisten werde, nur um jemanden oder etwas bloßzustellen. Außerdem ist das auf hipsterhafte Weise postironisch, also ja wohl sowas von 2012.

Vielmehr will ich auf die Schönheit in der allzu offensichtlichen Scheußlichkeit aufmerksam machen. Ich darf sowas, weil ich allzeit und absichtslos einen viel zu soziologischen Blick auf die Natur (und Kunst) gerichtet halte, um ein Lied rundum scheiße zu finden. Ich betrachte die erschütternd gedankenlos zusammengerüpelten Prominentendarstellungsliedchen aus dem weiland Blauen Bock mit der gleichen geradezu zoologischen Faszination wie das perfide Brutverhalten der Schlupfwespen. Oder anders: Ich bin nicht so der Fremdschämer.

Weil ich ja mit den wenigsten Leuten auf der Welt befacebookt bin, folgt meine Liederauswahl, damit ich das Zeug nicht bloß für zweieinhalb Facebooquiniers ausgewählt hab, denen außer Fotos von Tellergerichten eh alles wurscht ist. Da müssen Sie jetzt durch.

Mittwoch. Als erstes fällt mir der Roadrunner von 1983 ein, vor allem das Video aus der Frühzeit des Musikvideoschaffens. Burghausen, die längste Burganlage der Welt, war schon Zeuge mancher musikalischen Verirrung und Drehort für irgendwelche Versionen von den “3 Musketieren” und “Baron Münchhausen”, “Wickie auf großer Fahrt” und “1 1/2 Ritter”, aber vermutlich nur einmal Schauplatz eines so engagiert und buchstäblich zerbombten Refrains. Das Schöne daran ist, dass dieser gesuchte Effekt tatsächlich stört und dadurch erst zeigt, was Roadrunner für ein unverwüstlicher Ohrwurm ist.

Der Künstler Max Werner ist Holländer, sieht aber mit seinem zeittypischen Vokuhila und diesem nicht kopierbaren Trucker-Blick verblüffend aus wie die Nürnberger Gebrauchs- und Biergartenmusiker, die man bis heute an ihrem freien Samstag in den nach der Gentrifizierung übrigen Altstadtkneipen trifft, wo sie mit ihrem Fender-Plektrum auf der Theke den Takt zu den “besten Oldies” klopfen wie normale Leute mit ihrem BMW-Schlüsselanhänger. Meistens betonen sie einmal zu oft, dass “Spaß sein” müsse, sind aber bei genauerem Herumlallen erstaunlich patent. Lang sollen sie leben.

Donnerstag. Wenn schon, dann richtig: Ray Peterson: Tell Laura I Love Her von 1960 ist mir zuerst etwa 14-jährig beim heimlichen Radiohören im Bett widerfahren, wahrscheinlich im Nachtprogramm auf SWF 3 oder so. Danach musste ich erst mal ausschalten, weil darauf einfach nichts Ebenbürtiges mehr folgen konnte. Gegen diesen schamlos ausgelebten Herzschmerz kann jeder Shakespeare-trainierte Berufstragöde einpacken, und am besten ist natürlich der letzte Refrain, den “Tommy” aus dem Sarg heraus singt. Und ich wusste bis soeben nicht einmal, dass ein Genre des Teenage tragedy songs existiert.

Freitag. Mal was Lustiges. Leinemann: Piraten der Liebe, 1986 kann ich nur ungefähr zwei-, dreimal im Leben gehört haben; unvollständige Youtube-Anspielungen zählen nicht. Dabei kann es sein, dass dieser Faschingsklopfer in hedonistischer orientierten Gegenden Deutschlands, vulgo “Karnevalshochburgen”, sehr viel präsenter ist als im Fränkischen.

Der erhältliche Fernsehmitschnitt sieht so aus, wie das Lied klingt: bunt, überladen, randvoller Piratenklischees, übermütig und auf jede Weise so, dass man nicht wegschauen kann. Die Melodie ist offenbar eingängig genug, dass ich sie mir an die drei Jahrzehnte ohne weitere Stütze merken konnte, und poetisch ganz und gar durchtrieben gestrickt — und vor dieser Art Unterhaltungshandwerk hab ich von jeher einen Heidenrespekt. Man hat ständig das Bedürfnis, an geeigneter Stelle “und ‘ne Buddel voll Rum” einzufügen.

Samstag. Bei Country & Western muss man ja immer höllisch aufpassen: Vor allem wenn die Künstler als Cowboys kostümiert sind, womöglich noch in Weiß und/oder mit Indianer-Applikationen, hagelt’s patriotischen Kitsch. Faustregel: Country-Musiker mit Hut sind zu meiden.

Tom Astor — Markenzeichen: weißer Cowboyhut — ist in Wikipedia als Sänger, Komponist, Texter und Produzent ausgewiesen und hat schon mit Johnny Cash Duett gesungen — ein respektabler Mann. Auf einem Nürnberger Truckertreffen hab ich ihn dagegen mal live und eher als überforderten Pausenkasper erlebt. Die Produzentenseite in ihm scheut sich nicht, für seine Spätpubertätshymne Junger Adler von 1993 Kinderchor und elektrisch vervielfältigten Dudelsack zu verwenden. Alle Häme des kulturell Gebildeten ist über dergleichen schnell ausgegossen.

Und dann das: Sozialarbeiter, die mehrmals pro Jahr Zeltlager mit straffälligen Jugendlichen wuppen müssen, berichten mir, dass zuverlässig immer bei diesem Lied mit den mittelschweren Jungs “etwas Magisches” passiert. Und das ist der Moment, wo Adorno mit seinem leider unwiderlegbaren Elitequatsch über Gebrauchsmusik mal kurz die Klappe halten soll. Mir sagt das: Es funktioniert also offenbar auch mit verstimmter Lagerfeuerklampfe und rührt an etwas Urtümliches, zutiefst Menschliches — und das eben nicht nur in musikalischen Nullcheckern und bekennenden CDU-Wählern, sondern in Menschen, die sich anderweitig jung aufgegeben haben. Sagen wir, ich würde kein Geld für einen Tonträger davon ausgeben, ich find’s ja selber zum Fürchten — aber wer mir erzählt, das rühre samt Kinderchor und Dudelsack sein Herz nicht an, der hat keins.

Sonntag. Ich bin ziemlich sicher, dass ich das genau einmal im Leben gehört hab, bevor ich aus dokumentarischen Gründen auf Youtube danach gesucht hab; man sucht dergleichen nicht freiwillig auf. Und schau an: Es ist tatsächlich eine Rarität. Der ganze Patrick Nielsen firmiert in allen Suchergebnissen als Profiboxer, das Väter und Cowboys von 1980 hat so gut wie nie existiert. Allein einem einzigen Youtübner scheint es etwas zu bedeuten, der visuellen Möblierung nach etwas sehr Persönliches. Die Tonaufnahme ist sehr höhenlastig, wie die meisten Vinyl-LPs, die per USB-Plattenspieler in Sounddateien überführt wurden. Offenbar hat das Lied nie den CD-Status erreicht, sondern kommt nahtlos aus einer Plattentruhe ins Internet.

Es war wohl einst sozialkritisch gemeint — damals, als Bayern 1 noch ungeniert Heino spielen konnte. Warnung: Es fällt schwer, sich auf einen schlimmeren Schmalz zu besinnen, und wie mein Beispiel lehrt, hält der Ohrwurm Jahrzehnte.

Montag. Weil morgen schon schluss ist, gleich ein Double Feature: Kate Bush: Wuthering Heights aus The Kick Inside von 1978 hat seinerzeit gleich zwei aufwendige Videos bekommen: das White Dress Video für den europäischen Markt und das Red Dress Video für den amerikanischen. Jemand mit Kohle hat also ziemlich viel von dem Lied gehalten, dabei wusste von Anfang an niemand, welche Visualisierung jetzt die grausigere ist.

Es ist so eins, um das die Legendenbildung praktisch sofort eingesetzt hat, zahlreiche Coverversionen balgen sich, freiwillig oder nicht, um die Palme für die schlimmste Parodie und versuchen endlich Herr über die zugegeben sehr anspruchsvolle Melodie zu werden. Selber bilde ich mir einiges darauf ein zu wissen, welche Wuthering Heights-Verfilmung das 18-jährige Mädelchen Kate Bush beim Aufwachen vor dem Fernseher (es war der 5. März 1977, natürlich eine Vollmondnacht) zu diesem Monument der Besessenheit inspriert hat (der mit Laurence Olivier von 1939 war’s).

Pina Bausch hätte Kate Bush für diese Verunglimpfung des Ausdruckstanzes mit einem nassen Tütü erschlagen, aber das Lied hat wirklich Größe.


Dienstag, letzter Teil: Einmal Neue Deutsche Welle muss einfach sein: Andreas Dorau und die Marinas: Fred vom Jupiter aus Blumen und Narzissen von 1981 war ein Schulprojekt, was man ihm auch anhört, aber immer für künstlerische Gestaltung gehalten hat. Andreas Dorau war bei Konzept und Umsetzung ebenso wie seine Go-Go-Klassenkameradinnen 16 Jahre alt, vier Jahre älter als ich, und konnte mich durch den Rest meiner Jugend damit begleiten. Wirklich imponiert hat mir immer der Mädchenchor, der gegen seine eigene Melodie ansingt.

Erst im YouTube-Zeitalter erhellte, dass tatsächlich eine Sechseinhalb-Minuten-Version erstellt wurde. O der verschwendeten Jugend.

Und? Können Sie noch? Sie sollten ja auch nicht alles gleichzeitig anklicken.

Nummer 8 wäre übrigens New World: Kara Kara Kimbiay von 1971 gewesen. Leider war da die Woche schon rum. — Bonus Track:

Remember I said I give you lessons, too?

Obwohl die zuverlässigste Zählung der Filme mit drei und vier Marx Brothers (der biedere Zeppo war Ersatzbank, Gummo war nur live auf der Vaudeville-Bühne und in keinem Film, und einer ist schon mit drei Monaten gestorben) auf 17 plus 7 mit Groucho solo plus 3 mit Harpo solo, und Chico in “jedem der dreizehn Marx-Brothers-Filme” durch seine versehentlich erlernte Pistolenfingertechnik am Klavier aufgefallen sein soll, stellt der “one-stop shop for Chico Marx playing the piano” gerade einmal 10 Klavierauftritte zusammen. So krampfhaft ich mich auf meine frühen Fernseherlebnisse zu besinnen suche, fällt mir auch kein elfter mehr ein.

Chicos zehn Rezitationen populärer Klassiker, früher Schlagerfetzen und Kinderlieder am Klavier dürfen ruhig als stilbildende Momente der Filmgeschichte gelten. Deren Versammlung ist erschütternd kurz: keine 20 Minuten. Das Tonmaterial von Wladimir Sofronitski dauert wahrscheinlich ein paar Wochen, aber sein Schauwert beschränkt sich dabei auf die Spannung, ob er die Tasten auch mit den Mundwinkeln anschlagen kann. Spätestens wenn man Chico in dieser Geballtheit zuschaut, dämmert einem wieder, was man aufgrund der eigenen Lebensauffassung im Leben alles verpasst: eigentlich nichts Genaues, aber schöner, geschmeidiger, leichtfüßiger und vor allem leichtherziger ging’s auch.

Etwas Größeres kann ein Film nicht leisten. Wenn jemandem etwas Größeres einfällt, das ein Film leisten kann, soll er mir’s bitte sagen. Aber nicht in der Rhetorik von meinem alten Vorbild Groucho, das merk ich nämlich sofort und kann’s hoffentlich selber am besten.

  1. The Cocoanuts, 1929: Gypsy Love Song als Signor Pastrami the Lithuanian Pianist;
  2. Animal Crackers, 1930: Silver Threads Among the Gold als Signor Emmanuel Ravelli;
  3. Monkey Business, 1931: Pizzicatto/When I Take My Sugar To Tea als Chico;
  4. Horse Feathers, 1932: Collegiate als Baravelli the Piano Teacher;
  5. A Night at the Opera, 1935: All I Do Is Dream Of You als Fiorello;
  6. A Day at the Races, 1937: Hungarian Rhapsody #2/On The Beach at Bali Bali als Tony;
  7. At The Circus, 1939: Beer Barrel Polka als Antonio;
  8. Go West, 1940: The Woodpecker Song als Joe Panello;
  9. The Big Store, 1941: Mamãe eu Quero als Ravelli, vierhändig mit Harpo als Wacky;
  10. A Night In Casablanca, 1946: Hungarian Rhapsody #2/Beer Barrel Polka/Moonlight Cocktail als Corbaccio.

Um als Bonus Track doch noch einen elften Moment zu ermöglichen, verschweigt die YouTube-Gesamtausgabe ausdrücklich Chicos Duett mit dem vielbeschäftigten Filmgeiger Leon Belasco als Mr. Lyons — aus Love Happy, 1950: Gypsy Love Song — mit der Begründung, dass es kein Solo ist. Als ob der vierhändige Auftritt mit Harpo eins wäre; übrigens der beste, aber der verwendet aufs Ende zu sogar ein virtuelles Orchester. Das heißt mich hoffen, dass jemand oder etwas bald auch eine Sammlung mit den Harfenrezitationen von Harpo erstellen wird.

Gluteum ad genuflexes

Okay, der #FallBöhmermann scheint wohl vorerst durch, neue #Schmähgedichte scheinen nicht zu gewärtigen. Jedenfalls so lange, bis das ZDF wieder weiß, wo sich Herr Böhmermann aufhält, wenn er live irgendwelche Schulhofreimchen aufsagen soll — falls ihm nicht gerade seine eigene meinungsfreiheitlich gesonnene Regierung in den Rücken fällt, auch wenn er gar keine Meinung vertreten will.

Schade eigentlich, die Wortschöpfung “Schrumpelklöten” hatte einen gewissen pubertären Charme, und wenn das nächste Ziel seiner Neckereien wenigstens soviel Geistesgegenwart besitzt, innerhalb einer Woche etwas zu kontern wie “Pff, diese schwiindsichtige Zigarettenbirscherl wird wahrscheinlich alle Tage zusammenpacken seine Ikearegal”, muss niemand wegen einer Kasperlesendung ohne Einschaltquoten das Strafgesetz ändern.

In Österreich, das bis vor ein paar Tagen noch was auf künstlerische Freiheit gehalten hat, geht’s doch auch, jedenfalls haut das Wiener Prolo-Rock-Kabarett Die Hinichen, nach Selbstauskunft “die ordinärste Band von Österreich, verpönt bei Funk und Fernsehen”, seit Jahrzehnten einen Tonträger nach dem andern raus, auf dem es um es um nichts anderes als möglichst unwahre und unflätige Verunglimpfung Dritter geht. Und regt sich einer auf? — Ja. Aber keiner, der eine Ahnung von einem fröhlichen Beisammensein hat.

Damit wir durch allzu unverblümte Verschlagwortung keine verirrten Verwirrten auf unsere Seite ziehen, diene uns ein Soundvideo als Textbeispiel:

Und das, geliebte Freunde des freien Wortes, ist eins von harmlosen. Was wir daraus lernen? — Natürlich, dass man sich ruhig in ausreichend plastischem Deutsch äußern darf, wenn der Sprechakt es erfordert: Warum sollte man wohl von einem ohnehin falsch denotierten “Busen” säuseln, wo von Dutteln die Rede ist, Himmelarsch noch mal?

Mich bringt die Wiederbegegnung mit den musikalisch gar nicht mal so gefühlsarmen Hinichen darauf, endlich mal die bundesdeutsche Steilvorlage für Parodien jeglicher Tonart in die Mangel zu nehmen:

Das ist von Element of Crime: Das alles kommt mit, aus: Weißes Papier, 1993 via Jochen und Hannes live am 13. Dezember 2008 in der Küche des Franzosenhauses, was immer das ist, und so ziemlich die anrührendste Laien-Coverversion, die YouTube so hergibt.

Die CD hab ich, seit sie 1993 das Ding der Stunde war, aber immer wenn ich das Lied umschreiben will, komm ich bei dem Erstentwurf “die Vaseline, die du in Krankenhausmengen verbrauchst” vor kindischem Gekicher nicht weiter. Vor allem, wenn ich mir das Gesicht von der Kandesbunzlerin dazu vorstell. — Einen belustigten Tanz in Mai wünschen wir.

Und die Musicbox, die spielt heut immer wieder das Lied (Schnulzenalarm!)

Update zu Fuck Yes:

Kennt das noch jemand? — :

Das ist Music Box Dancer von Frank Mills, 1974, als Single 1978, in einer Live-Aufführung von 2014, die ausweislich YouTube als offizielles Musikvideo angesehen wird. Es pianiert der Meister selbst, 71-jährig und offenbar vor einer Art Altersheimausflug, aber mit einer Attitüde, als ob er das Lied verdammt gut kennt und nach den seither vergangenen vier Jahrzehnten immer noch zu ihm steht. Nebenbei sieht er äußerlich meinem Herrn Vater nicht ganz unähnlich, vor allem auch in der unaufdringlichen schwarzen Kunstlederjacke, wie man sie von russischen Taxifahrern kennt oder alten Herren, die sich zu fein für beige Windjacken sind.

Frank Mills, wenn man ihn auf sein eigenes angejahrtes Lied loslässt, spielt es einen Tick schneller als alle seine Cover-Interpreten — hupfiger, übermütiger, verspielter. Wenn der das nicht darf, wer dann?

Es ist eins der Lieder, bei denen man darauf verfallen kann, dass die Welt vielleicht doch nicht ganz verrottet ist. Das funktioniert auch ohne Text, weil sich Herr Mills möglicherweise etwas dabei gedacht hat, es instrumental zu belassen. Wenn Sie sich trauen, vergleichen Sie ein paar Versionen auf YouTube und schrecken Sie nicht zurück vor den Kommentaren darunter. Aus denen erhellt, dass diese Melodie nicht nur für mich einzigartig verschrobenen Kauz eine nachhaltige Kindheitserinnerung sein kann; die Leute haben ausgewachsene, teilweise richtig anrührende Geschichten dazu. Dergleichen ist verdammtnochmal zu respektieren, wenn man sich schon nicht mitfreuen kann; ich will nicht mal den “Alterheimausflug” von oben allzu verächtlich verstanden wissen. Das soll so eine magere, im besten Sinne kindliche Melodie nämlich erst mal leisten.

Abgeraten wird sowieso von der Version von James Last: viel zu überinstrumentiert, und das Klavier ist eine Art Midi-Dateien-Quäkse. Für meinen Begriff hätte schon das Original auf die Orchesterbegleitung und vor allem den Mädchenchor aus dem VCS-3 verzichten können, weil die Melodie stark genug wäre, um auch als Knochengerüst genauso weit zu tragen. Eine einzige Cover-Version muss trotzdem her.

Es ist die deutsche Schlagerversion von Marion Maerz von 1979, weil sie dem Klaviermuckel etwas hinzufügt, das vorher nicht drin war, und das vor allem dem Text von Peter Orloff zu verdanken ist. — Der Peter Orloff? — Jawohl, allerdings. Deshalb ergeht Schnulzenwarnung der Alarmstufe Rot; wenn Sie zu cool sind, um das auszuhalten, können Sie gern weiter die Babyshambles hören, sich einen Wilhelm-Busch-Bart wachsen lassen und mit einem MacBook in einem Veganercafé ein Startup für irgendwelche Solutions gründen.

Einzuwenden habe ich gegen Text nicht, wie fürchterlich er doch schmalzt, sondern allenfalls, dass der kleine alte Musikus eine Goldene Schallplatte hat. Es dürfte ruhig um einen gehen, der eben gerade mit seinem Geklimper ein Leben lang erfolglos bleibt, aber Ringsgwandl hat anno ’74 noch keine stillen Helden und Loser gefeiert, sondern Medizin studiert. Erfolglose Musiker gewinnen weder mit 30 noch mit 60 endlich ihre Goldene Schallplatte, um es doch noch allen zu zeigen, wie einschlägige “Du kannst alles schaffen”-Geschichten nahelegen. Und doch:

Und ein kleiner Mann, der sitzt in seiner Ecke ganz still
und freut sich so, dass jeder gern sein Lied hören will.

Das geht schon klar. Ist doch Schlager. Und ein Liedchen in die Welt gesetzt zu haben, das jemandem was bedeutet — wie nahe kann man dem Sinn des Lebens noch kommen?

Das sollte als Ohrwurm für die ganze Woche reichen. Sie müssen sich nicht dagegen wehren, entspannt tut’s weniger weh und macht im Falle Mills/Orloff/Maerz sogar glücklich. Jeder wie er kann, sagt mein Vater.

Denn solange es Musik gibt und solang sie gefällt,
bleibt ein bisschen Glück und Freude auf dieser Welt.

Was die Sendung mit der Maus verschweigt

Dazu braucht’s wieder mal die Kulturdetektei Wolf, damit das irgendwem auffällt: Mozart ist am Mittwoch 260 geworden. Nicht dass deswegen jemand mit den Ohren wackeln oder sich sonst einen Arm auskugeln müsste, aber so ein halbrunder Geburtstag eines anerkannten Herrgotts könnte ja von zuständigen Körperschaften zumindest mal respektiert werden. Das nächste Mozartjahr ist erst wieder 2041, und sollte das noch jemand erleben, der Wert darauf legt, kann er sich nicht mehr retten vor lauter kleiner Nachtmusik.

Das letzte Mozartjahr war 2006, und schau mal einer an: Wir haben damals schon gebloggt, sogar zum Thema: Leck mich im Arsch fein recht schön sauber. Sehr treffend.

Was sich seit 2006 gelegt hat, ist das Unwesen mit den Mozart-Klingeltönen, ja überhaupt irgendwelchen Klingeltönen; wahrscheinlich ist das seitdem durchgesetzte Telefonputzen so zeitaufwändig, dass jedes Klingeln stört.

Was gleich geblieben ist: das 27. Klavierkonzert A-Dur, Köchelverzeichnis 595 (das gern mal einen anständigen Namen vertragen könnte) mit Daniel Barenboim. Vor allem der dritte Satz.

Was in steter Veränderung begriffen ist: die Mozarteischen Schweinkramlieder. Die Verfilmung eines Kinderbuchs von Jutta Bauer mit Text und Musik von Mozart: Bona nox aus nirgendwo anders denn der Sendung mit der Maus entschärft leider das “Scheiß ins Bett, daß’ kracht” zu “‘s wird höchste Zeit” und “Reck den Arsch zum Mund” zu “Bleib recht kugelrund” — bewegt sich dabei aber innerhalb der kanonischen Versionen und ist überhaupt ganz putzig.

Das nächste Beethovenjahr ist schon 2027. Freude, schöner Götterfunken.

Das Kulturereignis des Monats

Den Mai durch haben sie die Musikabteilung der Gasteig-Bibliothek ganz erheblich umgeräumt. Sie will laut Eigenbeschreibung immer noch “die größte kommunale Musikbibliothek in Deutschland” sein, macht neben der größten Klassikabteilung der Welt, der beim Beck am Rathauseck, eine ganz ordentliche Figur, liegt immer noch im Keller, und sogar das elektrische Klavier zum Ausprobieren der Partituren ist noch da, aber nach Münchens einzigem zugänglichen Exemplar der Ästhetischen Theorie von Adorno muss man jetzt ganz schön schatztauchen, dafür findet man sich in den DVDs mit den Opernmitschnitten endlich zurecht. Auch schön.

Eine Inszenierung von Robert Wilson ist da, der Orphée vom Ritter Gluck, Pariser Fassung auf Französisch. Das ist fein, die hab ich immer gemocht, weil die Sorgen von Orpheus nicht erst seit seinem glücklosen Auftritt in den Sandman-Comics an irgendwas Uriges in mir rühren — meine erste Oper, die ich nach dem ganzen Operetten- und Eindeutschungsdesaster auf Vinyl in meinem elterlichen Haushalt als Gesamtaufnahme selber gekauft hab, aber nie gesehen. Außerdem mit der kleinen schnellen rothaarigen Patricia Petibon, eine der wenigen liebenswerteren Sopranetten, Jahrgang ’70, so sind sie, die Französinnen, als was sonst denn als L’Amour. Nix wie für zwei Wochen eingesackt (nicht verlängerbar).

Zur Einstimmung, weil ich über Robert Wilson nicht viel mehr weiß, als dass er mal den Black Rider von Tom Waits in seine gültige visuelle Form gebracht hat, muss man den natürlich erst mal feste googeln — um herauszufinden, dass genau dieselbe Inszenierung seit Jahren auf YouTube rumsteht. Sogar mit allem nötigen Gemoser der Kulturchecker drunter, dass Orpheus auf Französisch ja wohl mal gar nicht geht, wie immer das im englischen Wortlaut heißt, und wenn man eine Inszenierung von Robert Wilson gesehen hat, hat man alle gesehen.

Mein eigener innerer Kulturchecker findet es dagegen recht angemessen, dass eine Pariser Fassung egal wovon auf Französisch stattfindet, und eine wiedererkennbare Handschrift nennt man unter Freunden nicht “alle gesehen”, sondern “wiedererkennbare Handschrift”; oder gucken solche Miesmuscheln dann auch nie wieder einen Coen-Film, bloß weil Fargo eigentlich ganz lustig war? Und wessen Herz nicht aufgeht, wenn Patricia Petibon die barfüßige Amour gibt, wo hält sich das die ganze Zeit versteckt?

Die anrührendste Oper der Musikgeschichte als DVD und als eindreiviertelstündiges YouTübchen. Der Abend ist gleich zweimal gerettet. Lieber la Petibon zuhören als Sorgen wie Orpheus zu haben, seine Frau durch Schlangenbiss zu verlieren, aus der Hölle herauszuholen, auf dem Rückweg gleich nochmal zu verlieren und für die Bewältigung seiner Trauer von den Mänaden zu rohem Stifado zerrissen zu werden. Auf soviel kann man sich wohl einigen.

Gedenkens güt’ger Gestank

In Bayreuth müssen sie sich gar nicht mehr eingekriegt haben vor lauter Feiern. Jedenfalls hätte sich genau letzte Woche ein Besuch da oben rentiert, weil man, wenn man denn schon mal hin muss, gleich zwei Sachen mitnehmen konnte:

  1. 150 Jahre “Tristan und isolde”,
  2. die Blüte der Titanwurz.

In Punkt 1, dem “Tristan”, wie wir Wagnerianer, Brahmsianer und Indie-Indianer sagen, geht’s gleich im zweiten Takt, also praktisch ab der ersten Sekunde, los mit dem Tristan-Akkord, der dann die restlichen — für eine Wagner-Oper eher straff gehaltenen — vier Stunden gar nicht mehr aufhört.

Weil man sich bei Richard Wagner über viel beschweren kann, nur nicht über einen Mangel an kuriosen Einfällen, heißt so eine Erscheinung Leitmotiv, und nach den bisherigen 150 Jahren ist noch nicht einmal die Diskussion darüber beendet, in welcher Tonart das Ding überhaupt steht. Und der Organist in den “Buddenbrooks”, er hieß Pfühl, musste nur 25 Takte aus dem Klavierauszug des “Tristan” in einer häuslichen Übungsstunde probeweise anklimpern, um “mit allen Anzeichen des äußersten Ekels” (Thomas Mann, Wagnerianer, a.a.O.) zu urteilen:

Das ist keine Musik … glauben Sie mir doch … ich habe mir immer eingebildet, ein wenig von Musik zu verstehen! Dies ist das Chaos! Dies ist Demagogie, Blasphemie und Wahnwitz! Dies ist ein parfümierter Qualm, in dem es blitzt! Dies ist das Ende aller Moral in der Kunst!

Heutigentags hätte man Herrn Pfühl (der später im Roman sinnloserweise doch noch zum Wagnerianer umschwenkt) derweil zu Punkt 2 in den Ökologisch-Botanischen Garten der Universität Bayreuth schicken sollen, da hätte er ihn erlebt, seinen parfümierten Qualm. Dort hat am 6. Juni zum ersten Mal in den weltweit erhaltenen Aufzeichnungen die Titanwurz, immerhin die größte Blume der Welt, zum zweiten Mal innerhalb zehn Monaten geblüht, leider ausnahmsweise am 6. Juni 2015 a wengla kleiner als am 1. August 2014: heuer nur mit einem Durchmesser von 2,03 Meter.

Weil die Botaniker 1878, als einer von ihnen, er hieß Odoardo Beccari, auf Sumatra so eine Wurz entdeckt hat, so wenig der kuriosen Einfälle ermangelten wie Richard Wagner 13 Jahre vorher, heißt sie wissenschaftlich Amorphophallus titanum, und so riecht sie auch. Der Duft wird von seinen Liebhabern, Befürwortern und Förderern beschrieben, “als sei eine Biotonne mit Fleischabfällen darin in der Sonne geparkt und sehr, sehr lange nicht geleert worden” bis “wie eine tote Maus, die man tagelang nicht findet”. Und das in einem absichtlich schlecht gelüfteten Tropengewächshaus. Wahrscheinlich hat wegen der Titanwurz “Aasgeruch” seine eigene Weiterleitung in Wikipedia (zu “Aas” nämlich).

Ähnlich wie beim Tristan-Akkord innerhalb des “Tristan” ist das kein Manko des sympathischen Aronstabgewächses, sondern muss so sein, um bei der kurzen Blütezeit besonders fiese Insekten anzulocken, die sich nicht zu schade sind, diese Ungurken zu befruchten und, ohne Dank zu erwarten, ihr Fortbestehen zu sichern. Letzten Samstag im Botanischen Garten hat’s allerdings nur für 4500 Besucher gereicht.

Pickelhart, die Bayreuther. Wer bei “Tristan”-Stellen wie “Vergessens güt’ger Trank, dich trink ich sonder Wank!” eineinhalb Jahrhunderte ernst bleiben kann, wird wohl noch zwei Tage lang Titanwurz schnuppern können.

Das Lied vom Kastanienbaum

[Melodie: Nina Hagen: Erfurt & Gera, aus: Street, 1991.]

Da steht im Blumentopf statt Geranien, kaum
gepflanzt, gegossen, schon gesprossen, ein Kastanienbaum
auf dem Fensterbrett in der Küche
und absorbiert Gerüche.

       Und meine Frau Veronika
       spielt leise auf der Mundharmonika
       nach der Leberknödelsuppe lugend
       ihre Lieblingslieder aus der Jugend.

Der Vater von dem Bäumchen stand am Gartenzaun
und dann haben sie ihn letzten Winter umgehaun,
weil die Wurzeln in die Wasserleitung gehn,
und wir wollten nicht deswegen in der Zeitung stehn.

       Und meine Frau Veronika
       spielt rauf und runter ihre Chronika,
       dass wir die Suppe von Pink Floyd bis Nina Hagen schlürfen
       (das wird man heutzutage wohl noch sagen dürfen).

Dass der Papa nicht so einfach für die Katz vergammelt,
hat sie sorgsam die Kastanienkinder aufgesammelt,
eins in den großen Blumentopf, und erst verlor sich’s drin,
daneben kümmern meine Sukkulenten vor sich hin.

       Und meine Frau Veronika
       wechselt von der Dominante auf die Tonika,
       sucht noch für die Brühe Blumenkohl — oh,
       und was für ein brillantes Solo!

[Solo: ungefähr Sonny Terry auf Harmonica and Washboard Breakdown]

Wenn der Blumentopf bald nicht mehr reicht, seh ich,
sind die Kinder und die Enkel überlebensfähig.
Das Problem ist dann der Oma mit dem Haus zu schildern,
um bei ihr im Garten unser Bäumchen auszuwildern.

       Und meine Frau Veronika
       kauft online ein Pfund Antiparkinsonika
       und ich kauf ein paar Schnitzel für den Grill, ja,
       und dann gärtnern wir bei Großmuttern guerilla.

Alle Bilder vom Kastanienbaum sind leider
untersagt, weil I’m a lover, not a fighter.
Photoshop schafft nicht alles, was Schmutz schafft,
aber I’m a poet, not a Putzkraft.

       Und meine Frau Veronika
       spielt leise auf der Mundharmonika
       nach der Leberknödelsuppe lugend
       ihre Lieblingslieder aus der Jugend.

       Und meine Frau Veronika
       spielt Arnold Schönberg auf der Mundharmonika,
       auf die Leberknödelsuppe fluchend
       und neue Lieblingslieder suchend.

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