Bewirtschaftet von Vroni und Wolf

Monat: Juni 2010

Regnet’s am Siebenschläfertag, der Regen sieben Wochen nicht weichen mag.

Es ist, als ob Eulenspiegel es so eingerichtet hätte, dass zu Wintersanfang eigentlich der Frühling beginnt, und zu Sommersanfang eigentlich der Herbst.

Thomas Mann: Der Zauberberg, 1924.

War diese Woche überhaupt mal jemand wach? Am Montag war Tag des Schlafes, am Mittwoch Tag des öffentlichen Dienstes, und am Sonntag ist Siebenschläfer. Die Nächte werden eh schon wieder länger, dann guten Rutsch in die letzte Jahreshälfte.

Kommt, Leute, schabt mal die Kruste vom Fenster, schön Wetter is, da muffelt’s im Antiquariat kurzzeitig nicht so regenfeucht und im Café daneben döst alles voll elfengliedriger, sonnendurchfluteter Kunststudentinnen, denen das Zurücklächeln locker sitzt, macht die Kiste aus.

Oder Moment, kennt das noch jemand?:

Liadl: Spider Murphy Gang: Sommer in der Stadt, aus: Tutti Frutti, 1982.

Undressed to Shower. The Hollywood Küchenmesser Massacre. Liebe, Tod und Marli Renfros Füße in Schokosirup.

“Mother, she’s just a stranger”! As if men don’t desire strangers! As if… ohh, I refuse to speak of disgusting things, because they disgust me! You understand, boy? Go on, go tell her she’ll not be appeasing her ugly appetite with MY food… or my son! Or do I have to tell her because you don’t have the guts! Huh, boy? You have the guts, boy?

Norma Bates (†).

Like I said… the mother… Now to understand it the way I understood it, hearing it from the mother… that is, from the mother half of Norman’s mind… you have to go back ten years, to the time when Norman murdered his mother and her lover. Now he was already dangerously disturbed, had been ever since his father died. His mother was a clinging, demanding woman, and for years the two of them lived as if there was no one else in the world. Then she met a man… and it seemed to Norman that she ‘threw him over’ for this man. Now that pushed him over the line and he killed ’em both. Matricide is probably the most unbearable crime of all… most unbearable to the son who commits it. So he had to erase the crime, at least in his own mind. He stole her corpse. A weighted coffin was buried. He hid the body in the fruit cellar. Even treated it to keep it as well as it would keep. And that still wasn’t enough. She was there! But she was a corpse. So he began to think and speak for her, give her half his time, so to speak. At times he could be both personalities, carry on conversations. At other times, the mother half took over completely. Now he was never all Norman, but he was often only mother. And because he was so pathologically jealous of her, he assumed that she was jealous of him. Therefore, if he felt a strong attraction to any other woman, the mother side of him would go wild. When he met your sister, he was touched by her… aroused by her. He wanted her. That set off the ‘jealous mother’ and ‘mother killed the girl’! Now after the murder, Norman returned as if from a deep sleep. And like a dutiful son, covered up all traces of the crime he was convinced his mother had committed.

Did he kill my sister?

Yes and no.

Dr. Fred Richmond erklärt Norma(n) Bates.

Pünktlich zu diesen 45 Sekunden hat mein Vater mich immer Bier holen geschickt. Große Teile meiner Medienkompetenz entstanden nach 1980 im Anschluss an Kulenkampff, Lottozahlen, Tagesschau und Wort zum Sonntag, und zuverlässig wie Sissi zu Weihnachten kam zum Jahrestag im Juni Psycho. Von 1960 ist das Ding und deshalb, liebe Kinder, am 16. Juni 50 geworden.

Dabei war das Blut, das so malerisch ins Abflussloch der Dusche strudelt, nicht einmal Heinz Ketchup, wie man in einer großen Hollywood-Produktion erwarten darf, sondern schnöder Schokoladensirup, hoffentlich wenigstens Hershey’s. Das war möglich, weil Hitchcock in Schwarz-Weiß drehte. Nicht wegen der Ketchuppreise, sondern wegen der Zensur. Trotz allem Gemetzel in Großaufnahme wurde sorgfältig um alle offenen Stichwundern herumgefilmt, für den Sound wurde eine türkische Melone vielfach erdolcht. Anthony Perkins weilte an den Drehtagen zur Theaterprobe in New York, unter der Dusche stand nicht einmal die Hauptdarstellerin Janet Leigh, sondern ein etwas knubbelzehiges, immerhin naturrothaariges Nacktmodell namens Marli Renfro. Dafür hat sich Hitchcock für das wichtigste Close-up der Filmgeschichte ein zwei Meter großes Modell eines Duschkopfes bauen lassen. Janet Leigh wurde mit verschiedenen Anfertigungen der ausgestopften Mutter erschreckt. Die Scheuche, bei der sie am lautesten kreischte, kam in den Film.

Die Duschszene umfasst 70 Kameraeinstellungen für 55 Filmsekunden. Jedenfalls wenn man am Anfang Norman/Mutters Anschleichen durch den Duschvorhang reinrechnet, nicht aber am Schluss das überlang durchgehaltene Standbild von dem gebrochenen Auge, das wieder, o Perfidie der Drehbuchführung, dem somit hinausgeschriebenen Star Janet Leigh gehört.

Zählen Sie nächstes Mal ruhig die Einstellungen mit: Die haben eine ganze Woche Schneidetechnik gekostet. Manche Zelluloidschnipsel daraus waren gerade fünf Einzelbilder auf einer Fingerspanne lang und wurden einst in einem Paramount-Ausverkauf für absurde Summen versteigert. Nicht zu ergoogeln war, ob in einer Horrorauktion die Schnipsel mit Fräulein Renfros schokoladenumwaberten Platschflossen im Angebot oder die teuersten waren.

Das eigentlich Grausige an Psycho ist aber nicht der dann doch nicht ganz zensurkonforme Splatter in der Duschszene, sondern dass dieselbe schon im ersten Drittel stattfindet. Eine Hauptfigur einführen und vor der Zeit niedermessern, um mit einem verdrucksten Gimpel als Identifikationsmuster weiterzumachen und uns mitten in der Handlung auf die Schurkenseite zu zerren, das durfte danach erst wieder das Schreibbüro Stephen King. Wenn Hitchcock nicht sofort nach Erscheinen der Buchvorlage von Robert Bloch alle Rechte samt der gedruckten Erstauflage aufgekauft hätte, damit niemand weiß, wie’s ausgeht, hätten wir heute, man mag es bedauern oder nicht, weder das Texas Chainsaw Massacre noch Das Schweigen der Lämmer. Und ohne Anthony Perkins als stieläugiger Motelspanner weder James Stewart mit dem Feldstecher am Fenster zum Hof (siehe auch: Antiheld als gehandicappter Detektiv in eigener Sache) noch den hinterkünftig putzigen Vergewaltiger in Frenzy (siehe auch: sonderbare Rothaarige; gezoomte Standbilder von Leichenaugen).

Das Zweitgrausigste ist das, was man gar nicht merkt, weil es im Unterbewusstsein spielt: Der Film fängt mit einem Beischlaf an, steigert sich über einen Diebstahl zum Mord und endet in gemeingefährlichem Wahnsinn, und das in einem Motel, das Freuds Triebmodell ins House by the Railroad von Edward Hopper eingebaut hat: Im ersten Stock wohnt das Über-Ich in Gestalt der toten Mutter, im Keller das Es In Gestalt von Norman Bates’ perverser Freizeitbeschäftigung. Und was Freud von Bildern nackter Frauen in prekären Situationen im sexuellen Element Wasser hält, können Sie sich ausrechnen. Psycho gilt deswegen als genrestiftend für den, erraten, Psychothriller. Da sieht man nämlich, wie unterforderte Selbstständige enden.

Paramount fand das alles geschmacklos, vor allem weil Senator McCarthy und das reale Vorbild für Robert Bloch noch lebten: Ein gewisser Ed Gein sammelte abgeschnittene Nasen, Gliedmaßen und Geschlechtsteile von selbst getöteten und illegal exhumierten Frauen, deren Herzen bei seiner Festnahme in der Küche herumlagen, bastelte gern Masken aus Gesichtshaut und starb erst 1984 im wohlverdienten Knast; außerdem schrieb man 1960 und drehte gefälligst, Zensur hin oder her, seine Psychoschocker in Farbe. Da finanzierte Hitchcock sein Herzensprojekt eben alleine.

Zum Erfolg maßen die Schlangen vor Autokinos am ersten Wochenende drei Meilen, keine Dreiviertelstunde später rannten McCarthy-behütete Wohlstandstöchter entsetzt mit der Autotür knallend wieder raus. Ohne Eintrittserstattung und Liegesitze. Später am Abend wurde allein geduscht. Oder gar nicht.

Trotzdem gehörte es sich nicht, einen ehrbaren Filmregisseur am Wendepunkt seines Schaffens und der Filmdramaturgie damit zu behelligen, dass amerikanische Töchter nach dem Bierholen jetzt auch noch das Duschen verweigerten. Hitchcock empfahl: “Geben Sie Ihre Tochter in die Reinigung”, ein vollständiger Director’s Cut wurde dennoch bis heute nie freigegeben.

Erst wollte Hitchcock die musikalische Untermalung zum Duschen stumm schalten, ließ sich dann aber von seinem Komponisten zu dem monotonalen Streichersatz breitschlagen, der die Messerstiche nachahmt. Wenn man den durch die Zähne pfeift, kann man heute noch kleine Kinder damit erschrecken, die vor dem Bierholen noch lange genug durch den Spalt in der Wohnzimmertür Marli Renfro beim Nacktdoubeln zu Streicher- und Melonensounds beobachten konnten.

Noch ein Rat aus eigener Erfahrung an Kinder in Entwicklung ihrer Medienkompetenz:

Wie ein geistesgestörter Motelbetreiber heimlich durch Wandlöcher zu schmulen macht weder euren mitternächtlichen Abstieg in den Bierkeller noch das Verständnis von Hitchcocks dramaturgischen Maulschellen leichter. Und verstehen sollte man sie, man gewinnt sonst nicht das Herz, genau hinzuschauen; das Hirn bildet sich sowieso erst nach eurem Grundkurs Dramatisches Gestalten, glaubt mir.

Fangt deshalb zum Eingewöhnen erst mal mit dem Fenster zum Hof an: Der ist noch freudianischer, dabei unfreiwillig und freiwillig komischer, außerdem in Farbe, weshalb es ordentliches Heinz Ketchup statt Hershey’s Schokoschmodder gibt, Grace Kelly hat viel schmuckere Füße als Marli Renfro, und der Mord kommt mit dem schwülstigen Orchester-Soundtrack um Klassen harmloser daher, dafür so unvermittelt, dass Papa euch nicht mehr rechtzeitig rausschmeißen kann. Den Psycho-Epigonen Dressed to Kill (Brian de Palma 1980) guckt ihr bitte wirklich erst, wenn ihr charakterlich gefestigt seid; der liebe Onkel Wolf weiß schon, wovon er redet. Aber von mir habt ihr das nicht, ja?

Bestimmt auch wieder nur zuschandengeschnippelt und übermorgen aus Copyrightrücksichten aus YouTube entfernt: Die Duschszene aus Psycho, 1960.

Fachliteratur zu Edelsplatter und wichtigem Trash bei Final Girl!

Den Sand in den Kopf stecken

In diesen ruhelosen Tagen werden unsere Kollegen aller Branchen “was zur WM machen” müssen. Das muss the missing link glücklicherweise nicht. Bis zum 11. Juli 2010, an dem dieser betrübliche Auswuchs der afrikanischen Entwicklungshilfe enden wird, verhalten Sie sich uns und allen gefühlsbegabten Menschen gegenüber nach folgenden sehr wenigen, sehr einfachen Regeln:

  1. Meiden Sie Zusammenrottungen vor übergroßen Monitoren. Man erkennt sie von weitem am typischen Ausruf “Schlant!” und am Klang des Rauschens wie von Meeresbrandungen oder Autobahnen, gerne auch von traditionell afrikanischen Musikinstrumenten, die ähnlich heißen wie ein zurückgezogen lebender deutscher Fußballspieler. — Sollten Sie trotzdem unverschuldet in eine solche Zusammenrottung geraten, vergegenwärtigen Sie sich, dass man traditionell afrikanische Musikinstrumente und zurückgezogen lebende deutsche Fußballspieler respektieren sollte. Ebenfalls mit Respekt, nicht etwa Mitleid, sollte man zum eigenen Schutz Menschen mit Verhaltensstörungen begegnen. Deren Selbsthilfegruppen lösen sich am 11. Juli von selbst auf und mit ihnen das Problem, das sie bewältigen.
  2. Vermeiden Sie auch den Erwerb von Merchandising, der im Zusammenhang mit dem Fußball der Herren steht. Sehr wahrscheinlich unterstützen Sie damit niemanden, der Sie nicht dafür verhöhnen würde, allen voran eine undurchschaubare Hierarchie bizarr überbezahlter Hauptschulabbrecher. — Sollten Sie trotzdem unverschuldet solches Merchandising erwerben, etwa weil Entwicklungshilfe schließlich Entwicklungshilfe ist, oder weil Sie glauben, dass der Krempel in fünfzig Jahren was wert wird, verschließen Sie es gut an einem Ort, zu dem niemand außer Ihnen Einsicht gewinnt.
  3. Vor allem aber vermeiden Sie die Sätze “Der Ball ist rund”, “Der nächste Gegner ist immer der schwerste”, “Das Spiel dauert neunzig Minuten” und “Nach dem Spiel ist vor dem Spiel” sowie die Synekdoche “das runde Leder” als Umschreibung für einen Fußball. 1954, das war gerade einmal neun Jahre nach dem bisher verheerendsten Krieg, als man froh sein musste, wenn die Leute nicht noch schlimmere Sachen sagten. Rechnen Sie zum Vergleich nach, wo Sie heute vor neun Jahren standen, und bewahren Sie ein Mindestmaß an Würde in Ihren Äußerungen. — Sollten Sie trotzdem unverschuldet solche Sätze aufsagen müssen, etwa weil Sie sonst von Menschen, die sich unter Drogeneinfluss die Wangen mit Landesflaggen bemalt haben, spontan auf die Lichter kriegen, hören Sie hinterher zuhause ein Viertelstündchen Deutschlandfunk. Das bereichert und reinigt den Geist.

Sollten ungnädige Umstände Sie dennoch in den nächsten Wochen zwingen, ein Fernsehgerät zu verwenden: Nutzen Sie die DJ-Helme, die Sie sonst in Ihren iPod stöpseln! Die passen nämlich auch in die Kopfhöreranschlüsse an Breitwandfernsehern. Danke.

Nächste Woche: Korrektes Verhalten, wenn die Sendung mit der Maus wegen Fußball ausfällt, in behördlich unterstützten Verkehrsstörungen (“Autokorso”) und im Kontakt mit Betroffenen und Angehörigen.

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