Elfenbeintürme stehen in Verruf.
Das ist falsch gedacht. Die Welt, jedes Land, jede Stadt, ja wahrscheinlich jedes Haus, braucht einen Elfenbeinturm. Nicht weil ich so ein krautsköpfiger Arbeitsverweigerer bin, sondern weil ein gut geführter Elfenbeinturm das ist, was jede kulturelle Gemeinschaft von einer Horde Graugänse unterscheidet.
Bei uns ist das so: In unseren Regalreihen wohnt seit Jahren eine Auswahlausgabe von Puschkin in vier Bänden. Sie könnte vollständiger sein, weil ich Herausgebern mehr misstraue als meiner eigenen Schmökerkompetenz, aber kaum schöner. Echt antiquarisch, handlich moppelig, bombenfest gebunden, außen schmuck verziert und innen hübsch gesetzt und illustriert — kein wunder wie beeindruckender materieller Wert, nur ein ganz und gar liebenswerter Block aus vier Büchern, von dem die Welt ein Stück besser wird: Jeder wie er kann.
Die Jahreszahl darin lautet 1950, die Ausgabe ist also vermutlich 1949 erschienen und geschah zu Alexander S. Puschkins 150. Geburtstag; dergleichen Vordatierung von Büchern ist bei Verlagen bis heute weithin üblich. Der Verlag heißt: Verlag für fremdsprachige Literatur, Moskau.
Moskau 1949, Deutschland 1949. Da war außerhalb der Köpfe und Eingeweide von Elfenbeintürmern der Stalingrader Kessel sehr viel präsenter als eine Moskauer Verlegerstube. Für die Jubiläumsausgabe zum runden Geburtstag des so ziemlich beliebtesten russischen Volksdichters — Russland hält sich Volksdichter! — wurden die ausgewählten Werke neu übersetzt, erschlossen und kommentiert. Das Inhaltsverzeichnis weist unterschiedliche Übersetzer aus, allesamt mit deutsch lautenden Namen, als Herausgeber zeichnet ein W. Neustadt. Um pünktlich 1949 fertig zu werden, müssen sie einige Jahre vorausgeplant und sich noch inmitten Kriegs- und Nachkriegswirren drangesetzt haben.
Sie haben richtig gehört: 1945 oder jedenfalls ziemlich knapp nach Weltkriegsende wurden in Moskau, der Hauptstadt des deutschen Hauptfeindes, deutsche Gelehrte einer orchideenhaften Fachrichtung beschäftigt, um einen Märchenerzähler und Gedichteschreiber zu feiern. In einer Stadt, die im Krieg ihrerseits wesentlichen Schaden an Menschenleben, Gebäuden und Volksseele genommen hatte, nicht zuletzt durch Schuld von deutschen Landsleuten — auf einem verdammten Trümmerhaufen. Und zwar noch bevor die mittelfreundlich regierte Besatzungszone im Feindesland ein mittelmäßig geliebter Vasallenstaat wurde. Wahrscheinlich um ein Zeichen des Friedens nicht wohlfeil auszusprechen, sondern über nicht absehbare schwere Jahre hinweg zu leben, in dem Bewusstsein, dass es so ja wohl nicht lange weitergehen kann.
Ist dergleichen vorstellbar? Nicht immer, nicht überall, nicht unter allen Umständen. Aber in unserer Puschkin-Ausgabe steht’s drin, in kyrillischem Russisch und in Deutsch und, so wörtlich, “printed in the Union of Soviet Socialist Republics”. Das ist nicht weniger denn, mit Verlaub: heldenmütig.
Wenn man heute von Russland hört, dann von Gospodin Vladimir Putin. Nein, ich verstehe nichts davon, was dieser Mann treibt, und wenn, dann treibt er es sicher nicht allein. Mir macht einfach Angst, was er mit einem der tollsten Länder der Welt anstellt, für das er verantwortlich ist, und mit einigen anderen, zu denen er — ebenfalls schon rein aus Verantwortung — freundschaftliche Verbundenheit pflegen sollte; wenn der Krieg auf deutschen Boden lappt, werde ich schon beizeiten davon erfahren. Ich verstehe nur, dass er mit den Palmenstränden der Krim und dem kältesten bewohnten Punkt der Erde, mit wahrlich nicht enden wollenden Ebenen und gerade mal so grob kartographierten Gebirgen, mit den Hirschkäfern der Taiga und den Tigern der Kamtschatka, mit dem stillen Don, Wolga, Dnjepr und Ob, lauter väterlich gewaltigen, erdteilbeherrschenden Strömen, die Mississippi und Amazonas, Rhein und Donau in nichts zurückstehen, mit Millionenstädten, die annähernd lückenlos aus Weltkulturerben bestehen, und so weiten Steppen, dass sie mehr als einmal durch bloßes Herumliegen ein angreifendes Resteuropa ausgehungert haben, mit Menschen, die sich auf so unnachahmliche Leistungen verstehen wie eine so ausgefeilte wie ergreifende Volks- und eine höchst eigenständige klassische Musik, eine weltweit beispielgebende Literatur, einen Wodka, der kein Schädelweh verursacht, einen bestürzend schwarzen Rotwein oder eine Vielfalt von Suppen, deren jede mit dem Körper auch den Geist kräftigt, mit einem geschlagenen Siebtel der Weltproduktion an wissenschaftlichen Arbeiten und einem Fünftel der Erdoberfläche (die Meerflächen eingerechnet) — dass Putin, sagte ich, mit all diesen herzweitenden Gottesgaben, auf die jeder Landesbewohner tatsächlich so etwas wie stolz sein könnte, ohne sie persönlich erfunden zu haben, umspringt wie ein verzogener Rotzbengel von fünf Jahren, dass man laut Scheiße schreien und ihm sein Land aus den Händen reißen und vorsorglich eine schallern möchte, bevor er noch mehr kaputt macht. Und dass in der Zeitung dauernd über ihn geredet wird wie über einen tollwütigen Pitbull, den man mit keinem Wort reizen darf, weil er sonst reflexartig alle totbeißt und das ganze Haus in rauchende Trümmer legt — und dass man ihn da doch verstehen muss.
Kann diese, um nicht beleidigend zu werden: diese Führungskraft, die offensichtlich nie ansatzweise verstanden hat, was ihre Aufgabe ist, nicht einmal im Leben anteilnehmend einen Elfenbeinturm besuchen, wie sie hoffentlich immer noch in Moskau und sonstwo auf der Welt vorkommen? Man würde ihn in jedem einzelnen davon respektvoll empfangen und mit aufrichtiger Freude willkommen heißen, egal was er zuvor angestellt hat, da wette ich meine Puschkin-Ausgabe drauf. Da kann er was lernen, was für einem Land er vorsteht und in was für einer unwiederbringlich wahnsinnig wunderschönen Welt er leben darf, da schicken wir ihn und jeden, der beruflich lebendige Leute beeinflussen soll, mal pflichtterminmäßig hin.
Und unsern kranken Nachbarn auch.
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