Update zu Alle Schmetterlinge sind schon da
und Bus 502 ins Präkambrium:
Dem einen Merksatz sind wir dieser Tage überall begegnet: Gegen Spinnenfurcht hilft Spinnenwissen.
Das ist der abschließende Satz im zweiten und letzten Teil der Bemerkungen über die Spinne von Horst Stern 1975, im Original etwas erweitert, aber genau mit dieser Grundaussage. Als Fernsehmomente noch groß sein und nachhaltig beeindrucken konnten, waren legendäre Fernsehserien möglich. Und was Dokumentarfilme angeht, gibt es kaum eine nachhaltigere Legende als Sterns Stunde 1970 bis 1979.
Vor Jahren hab ich mich schon gefreut: Ui, fein, es gibt ja jetzt das Internetdings, da kriegt man bestimmt Sterns Stunde, vor den Spinnenfilmen graust mich heute noch. Wie schön festzustellen, dass Technik und Markt endlich weit genug fortgeschritten sind, um diese zwei Sternsstunden auf etwas anderem als mit Super 8 vom Fernseher abgefilmten Spulen erreichbar zu machen. Kaum dass die DVD technisch überholt ist, geht’s.
Nahezu gleichzeitig mit dem kostbaren Zuwachs unserer DVD-thek findet das Museum Mensch und Natur es passend, lebendige Spinnen in sehr übersichtlichen Terrarien auszustellen und es Faszination Spinnen zu nennen. Spinnenwissen zum Anfassen. Oder jedenfalls fast, gerade mal durch eine Vitrinenscheibe vom Streicheln abgehalten.
Flauschig sind sie nämlich, warum gruselt man sich eigentlich so? Weil Mädchen immer vor Schlangen Angst haben, Jungs vor Spinnen, wofür Professor Freud bestimmt wieder eine seiner schlüpfrigen Erklärungen hat? Weil sie flauschig sind wie Miezekatzen und zugleich giftig wie bescheuert? Weil sie Milben auf ihrem ekelhaften Hintern herumschleppen, weil sie ihre Männchen nach dem Vernaschen vernaschen, weil sie weiß der Himmel was mit ihren acht Beinen anstellen können, weil sie mit ihren acht Augen weiß der Himmel was durchschauen, was sie nur selbst wissen? Weil Arachnophobie gesellschaftlich so anerkannt ist, dass man endlich mal nach Herzenslust vor Angst zittern darf, ohne sich nebenbei noch zu genieren?
Wie alle Erklärungen großer Zusammenhänge ist das wahrscheinlich alles wahr und unzulänglicher Mumpitz auf einmal, mit seiner Angst steht jeder allein. Mein persönliches Verhältnis zu Spinnen ist seit jeher von einer Art respektvoller Distanz geprägt: Die Viecher rechnen sicher unter die zehn faszinierendsten Geschöpfe in Gottes großem Tiergarten, im Walde sollte man sie mit Interesse studieren und bewundern, aber bitte nicht gerade auf meinem Kopfkissen. “Angst” im Sinne von Panik sieht anders aus. Es ist auch kein “Ekel”, mehr ein “Grauen” im Sinne von H.P. Lovecraft.
Spinnentiere leben, streben und vor allem: weben seit dem Silur auf Erden. Das liegt tief im Erdaltertum, als auch Trilobiten auftraten — lange bevor sich ein Gebirge in die Höhe faltete, das heute noch aufrecht stünde — lange vor den Sauriern. Das ist dermaßen blödsinnig unvorstellbar lange, dass man sich ganz klein und kindsköpfig vorkommt im Angesicht eines zwei Zehntel Millimeter großen Krabbeltiers.
Spinnen haben schon Schachtelhalme gesehen, die noch nicht einmal so groß wie Dinosaurier sein konnten, weil kein Chitin gewordenes Aufblitzen der Evolution wusste, was ein Dinosaurier sein soll. Millionen Jahre später sind sie auf ihnen herumspaziert und zeigten sich wenig beeindruckt, als sie wieder ausstarben, dazu hatten sie schon damals zu viel gesehen — und wer waren nochmal neulich diese weltbeherrschenden Trilobiten?
Wer eine Spinne anschaut, blickt in einen Abgrund einiger Jahrhundertmillionen. Und darf mit Fug annehmen: Dieser possierliche Geselle weiß allerhand, wovon ich nie einen Begriff haben werde. Da soll einem nicht grausen.
Wer sich seit dem Silur kaum verändern musste, war offensichtlich von Anfang an eine überaus taugliche Lebensform. Die mussten nie “was aus sich machen”, die genügen schon immer. Was so eine Spinne ist, die funktioniert in wesentlichen Teilen als Selbstläufer: Weitgehend unerforscht bleibt, woraus ihr alltäglich anzutreffender Spinnfaden überhaupt besteht, wie sie ihn in ihrem sparsam ausgestatteten Innenleben chemisch zusammensetzt und formt, und wie sie ihn aus ihrem sinnreich gegliederten Körper herausbekommt, der keinen Innendruck aufweist. Dagegen weiß man aus der Beobachtung, dass sie ihn nach Gebrauch auffrisst. So geht Recycling.
Auch das berüchtigte Aufessen von Geschlechtspartnern geschieht nicht aus feministischer Gehässigkeit, sondern zur Verwertung ansonsten nutzlos herumfaulender Proteine. Übrigens verwerten einige Spinnenarten sogar ihre eigene Person: Das Weibchen eines eindrucksvollen lateinischen Zweiteilers nicht unter sieben Silben durchspült sich in ihrem Nest voller süßer kleiner Spinnenkinder selbst mit Verdauungssaft und löst sich zu Babynahrung auf. Eat this, Professor Freud.
Von den phantastisch einfallsreichen Methoden zum Insektenfang ganz zu schweigen, beschreiben doch Gattungsnamen wie Springspinne (z.B. Salticus scenicus), Speispinne (z.B. Scytodes thoracica) oder Bombardierspinne (z.B. Brachypelma smithi) hauptsächlich das Verhalten gegenüber Beute und Fressfeind. Die Gesamtheit der Spinnen ist demnach kein Perpetuum mobile — aber die Richtung stimmt, alle Achtung.
Und wie gelehrt sie alle heißen. Die erwähnte Brachypelma smithi mit den roten Knien, unter denen sie sich verstecken kann, gilt als die schönste von allen (bis sie einen mit Brennhaaren von ihrem hübschen Hintern besprüht); Grammostola rosea und pulchra kennt man als samtige, schwarzschimmernde Monster aus Bewerbungsarbeiten von Filmregisseuren aller Altersstufen fürs Sundance Film Festival; Psalmodeus cambridgi hat eine tolle Mittelwirbelfrisur, ohne sich je zu kämmen; Chromatopelma cyaneopubescens ist auf den Bildern aus Venezuela immer leuchtend zyanblau, nur in der Ausstellung in München nicht; Acanthoscurria geniculata soll laut Beschreibung “recht aggressiv” sein, sonnt sich aber unter ihrer Glühbirne wie alle anderen auch; Vitalius wacketi soll schon eine der größten sein, kommt aber auch nicht weit über acht Zentimeter Körpergröße oder siebzehn Zentimeter Beinspannweite; und die bescheidene Heteropoda venatoria geht fast nackt einher, gilt dabei als harmlos bis nützlich und ist in tropischen Lagerhäusern gern gesehen, weil sie blitzschnellen Schrittes und sicheren Zugriffs das Ungeziefer fernhält.
Wenn jetzt noch bis 23. Juni 2013 in den Vitrinen des Münchner Museums Mensch und Natur ein paar besonders pelzige, besonders fettbeinige, besonders rot-schwarz gestreifte und besonders giftige Vertreterinnen (die Weibchen machen mehr mit und leben länger) die Faszination der Spinne demonstrieren sollen, halten die das auch noch durch. Wir, die wir glauben, der Spinnenschaft einen artgerechten Dienst zu erweisen, indem wir sie auf viertelquadratmetergroßen Baumrindenhäufchen eingeglast der Schaulust von Arachnophoben und Arachnophilen preisgeben, wir sind schon lange angezählt. Du und ich und wahrscheinlich sogar Horst Stern, schade eigentlich. Am Ende aller Tage können wir die unverändert gedeihenden, sich vermehrenden und verzehrenden Spinnen dann fragen, wie unser Erdzeitalter geheißen hat, falls sie das in dem nachschauen können, was es dann anstatt eines Internets gibt, und ob wir uns besser gehalten haben als ein paar Äonen zuvor die Dinos oder wenigstens annähernd so gut wie die Trilobiten.
Da kommen wir aber mit den sechs Euro Eintritt nicht mehr aus.
Bild: Micha L. Rieser: Frisch gehäutetes Weibchen der Brachypelma boehmei, 21. Mai 2012.
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