Alle Welt hat dieses Buch gelesen, aber sich noch niemand erschossen. […] Ich weiß aber, daß einer sich erhängt hat, der einen theologischen Schrieb gegen Goethe bis zum Ende durchgelesen hat.
Christian Gottlieb Hommel, 1778.
Nach dem Essen, Rauchen, Vögeln und Radfahren wurde endlich auch das Bücherlesen als gesundheitsgefährdend erkannt — ausnahmsweise kein Witz, und vorerst nur in Amerika, wo alles Gute herkommt, das erfahrungsgemäß fünf Jahre bis Europa braucht. Bücher (und die alten Papierstöße, die ebenfalls Bücher heißen) sollen deshalb im weiteren Verlauf Trigger warnings tragen, die Schwangere, posttraumatisch Belastete, Minderjährige und Simpel vor den Folgen des Lesens bewahren.
Warum ich das verstehe: Auf CDs und Computerspielen muss ja auch irgendwo draufstehen, wenn irgendwann in den siebzig Minuten einer kurz “Fuck” dazwischennuschelt: “Contains explicit lyrics”; Museen sind gehalten, ihre letzten gelangweilten Rentner zu vergraulen, indem sie das “Material” anprangern, das “manche Besucher als verletzend empfinden” können. Die fürsorgliche Zensur, die keine sein mag, hebt uns also schon niemand mehr auf.
Beim Konsum schon geringer Dosen Marcel Proust werden häufig Anfälle von Narkolepsie beobachtet. Beim Hinaufkraxeln zum Buchstaben A in der Stadtbücherei hat’s mich als Kind mal fast von der Leiter grebröselt. Die leichtfertigen Ermutigungen in “Fifty Shades of Grey” (ich hoffe, das ist nicht übersetzt…) führen immer wieder zu Haushaltsunfällen — der häufigsten Todesursache nach dem Missbrauch von Tabak und Lebensmitteln. Wenn also heutzutage immer noch das Gehen auf Straßen, das ungeschützte Kochen von Kaffee und das Betreiben von Wäschetrocknern, in denen sich Personen und Wellensittiche aufhalten können, legal sind, muss wenigstens jeder Nutzer von Bierflaschen und Büchern jedes liebe Mal wieder darauf gestoßen werden, dass einem von Frank Schätzing mindestens so schlecht wird wie von Oettinger Hell. Überhaupt rechne ich seit jeher zu meinem Recht auf freie Information – und schätze es hoch –, dass ich Sachen, die ich nicht vertrage, nicht lese.
Warum ich das nicht verstehe: Wer geldwert arbeitet, kann gar nicht risikofreudig genug sein. Ein Job, der nicht gleich eine “Herausforderung” ist, kann nur liederliche Freizeit sein. Und in der Freizeit, die man sich politisch noch nicht so recht der freien Verfügung des Arbeitsviehs zu entwinden traut, muss es am sorgfältigsten beaufsichtigt werden. Aber Shakespeare stiftet zum Antisemitismus an (“Der Kaufmann von Venedig”!), E.T.A. Hoffmann zur Verhöhnung von Obrigkeiten (“Meister Floh”!) und zum Saufen (“Der goldne Topf” u.ö.), Erich Maria Remarque zur Vorbereitung eines Angriffskriegs und Rosamunde Pilcher zum voreiligen Auswandern nach Cornwall? Die neue, viel weiter reichende Qualität daran ist, dass nicht mehr moralisch zum Schutz von Minderheiten argumentiert wird, sondern gesundheitlich. Eine Zensur findet nicht statt. Eine Frechheit schon, aber die steht in keiner Landesverfassung.
Warum ich das überhaupt nicht verstehe: Seit wann wird Literatur so ernst genommen? Zuletzt ist das mit dem “Werther” passiert, der “eine Empfehlung des Selbst Mordes” sein sollte. Aber das war punktuell in einzelnen Städten, voran Leipzig, mit einem einzigen Buch, und es war 1775, tief im Feudalismus, kurz vor der Französischen Revolution. Und ich bin nicht sicher, ob das hierher gehört.
Ungesunder Lesestoff: Dolly’s Underworld of Edits, 9. Januar 2014.
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