Die Betriebskatze Moritz zeigt von jeher ein besonderes Interesse an ernster Musik (Blues, Klaviersonaten) und spirituell begabten Wirbeltieren. Was Wunder, dass er früher oder später auf Hélène Grimaud verfallen musste.
“Die ist hübsch, ne?” sagt Moritz.
“Da bin ich froh, dass dir das aufgefallen ist”, sag ich.
“Mrr.”
“Was treibt einen Menschen überhaupt dazu, mit 34 seine Autobiographie vorzulegen?”
“Ein tiefes Wissen um die Dinge des Lebens.” Moritz weiß, wovon er spricht.
“Aber ihr Übersetzer weiß nur lückenhaft um die Dinge der Kommasetzung”, wende ich ein.
“Du bist ein nickeliger Rechtschreibsnob, o bester aller Dosenöffner.”
“Na, immerhin hat er Variations sauvages mit Wolfssonate übersetzt.”
“Eben. Es zahlt sich aus, wenn eine Frau toll Musik machen kann, sich für Wölfe engagiert und auch noch so unverschämt gut aussieht.”
“So viel auf einmal in einer einzigen Frau. Das ist nicht fair.”
“Meister, das Leben ist nicht fair, außerdem ist sie Französin. Und guck doch, was sie für kluge Tiere kennt:”
Man interessiert sich mehr und mehr für die übersinnlichen Fähigkeiten, über die manche Menschen verfügen. Dieser sechste Sinn, diese Intuition, die es manchen erlauben, die Zukunft vorherzusagen, die Gedanken anderer zu erraten und die geheimen Verbindungen zwischen Leben und Tod zu erkennen. Liegt das daran, dass ihr Charakter duch nichts verdorben worden ist? Viele Tiere haben die gleichen Fähigkeiten bewiesen. Und die Geschichte ist voll von solchen Fällen.
So hatte Ludwig XI. den Esel Brunot seinem Herrn abgekauft, der das Wetter vorhersagen konnte.
Die Goldfische des japanischen Kaisers machten ihn 1923 durch ihr aufgescheuchtes Verhalten, das so weit ging, dass sie sich aus ihrem Glas stürzten, auf ein drohendes Erdbeben aufmerksam.
Sämtliche Hunde von Hiroshima heulten schaurig ein paar Stunden, bevor die Bombenflugzeuge die Stadt erreichten.
In Freiburg begann am 27. November 1944 eine Ente, die die Wärter wegen der Eigenartigkeit ihres warnenden Verhaltens überwachten, wütend zu schnattern und versuchte mit allen Mitteln auszubrechen. Alarmiert, begann ein großer Teil der Bevölkerung zusammen mit ihr in aller Eile die Stadt zu verlassen. Dreißig Minuten nach ihrem Aufbruch vernichtete ein Bombenhagel um die dreitausend Bewohner und die Altstadt.
In Spanien weigert sich ein Pferd trotz der Peitschenhiebe des Kutschers, in einen Bergtunnel hineinzugehen. Die Autofahrer hinter dem Gespann hupen wütend. Vergeblich. Obwohl einige Fahrer ihre Autos verlassen haben, um das störrische Tier mit Hü-Rufen an den Straßenrand zu ziehen, rührt sich das Pferd nicht von der Stelle. Und zu Recht: Ein paar Augenblicke später stürzt der Tunnel ein.
Sechs Monate vor dem Umzug der Pariser Markthallen aus dem Zentrum der Hauptstadt machen sich zwei Millionen Ratten, auf unerklärliche Weise informiert, auf den Weg nach Rungis, dem neuen Standort des Bauchs von Paris.
Wochenlang verlässt die Katze von Winston Churchill nicht das Bett, in dem ihr kranker Herr auf die Besserung wartet, die die Ärzte ihm vorhergesagt haben. Die Genesung soll unmittelbar bevorstehen. Ein paar Stunden später stößt die Katze schreckliche Schreie aus, springt mit einem Satz vom Bett und flieht aus dem Zimmer. Am folgenden Tag stirbt Churchill.
Verärgert über das ständige Winseln seines Pudels Baron, schenkt Victor Hugo ihn seinem Freund, dem Marquis de Faletans, der als Diplomat nach Moskau geht. Dieser adoptiert den Hund und schreibt dem Dichter regelmäßig, wie es ihm geht. Bis zu dem Tag, an dem Baron verschwindet. Trotz der Suchanzeigen und der ausgesetzten Belohnung wird er nicht wiedergefunden. Ein paar Monate später kratzt Baron abgemagert und mit blutigen Pfoten an der Tür von Victor Hugos Wohnsitz. Er hatte viertausend Kilometer zurückgelegt, um sein Herrchen wiederzufinden …
Und was soll man von Mohilov sagen, dem Hund des Herzogs von Enghien, den man mit Gewalt von seinem Herrchen wegziehen muss, der zu den Gräbern von Vincennes gebracht wird, um dort hingerichtet zu werden. Sobald er wieder freigelassen wird, rennt der Hund wie verrückt los, findet ganz allein den Weg zum Friedhof und legt sich winselnd auf das Grab seines Herrn. Vermutlich wäre er dort gestorben, wenn der Herzog nicht testamentarisch bestimmt hätte, dass aufs Beste für seinen treuen, seinen treuesten Begleiter gesorgt werden soll …
“Lies das nochmal mit der Katze”, sag ich.
“Die ein paar Stunden später schreckliche Schreie ausstößt, mit einem Satz vom Bett springt und aus dem Zimmer flieht?”
“Ja, bitte.”
“Nein, danke.”
“Irgendwas ist immer.”
“Du lernst schnell, Meister.”
Dann zeigt er mir noch 21:23 Minuten lang die vorletzte Klaviersonate von Beethoven, Nr. 31 As-Dur opus 110 im Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie, 2001. Übrigens im Vollbild. Von Katzen lernen heißt leben lernen.
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