Andere entkommen Weihnachten nicht, ich entkomme meinem Job nicht: Kaum betritt man Schloss Blutenburg, schon ist der Weihnachtsmarkt geschlossen, von der Internationalen Kinder- und Jugendbibliothek, Erich-Kästner-Zimmer, Michael-Ende-Museum, Binette-Schroeder-Kabinett, James-Krüss-Turm und Agnes Bernauers Bett ganz zu schweigen. Touristentipp: Winterwochentags früh um zehn hat man die Münchner Sehenswürdigkeiten praktisch für sich.
Vielmehr sagt mir der Weihnachtsmarkt als erstes dezent, womit ich eigentlich beschäftigt sein sollte:
In die meisten der Sehenswürdigkeiten hätte ich sowieso nicht reingekonnt: Sich über 18 alleine in der Internationalen Kinder- und Jugendbibliothek rumzutreiben hat so was Pädophiles, und sich in Agnes Bernauers Bett rumtreiben hat wieder was Nekrophiles, außerdem lassen sie einen das bestimmt nicht mal unter 18.
Dagegen darf man heute in die Schlosskapelle, auch wenn man nicht dem Adel angehört, und die ist wirklich schön. Die vollständigste Kirchenausstattung der Spätgotik in Deutschland war in Teilen 1971 kurzzeitig bei Walter Sedlmayer selig im Wohnzimmer. Des Kirchenraubs und der Hehlerei wurde er nach fünf Tagen U-Haft wieder freigesprochen, wie die Blutenburger Madonna allerdings da hingekommen war, verraten sie einem im Internet bis heute nicht (“Huch! A Madonna vo 1488! Wia liab dass’ herschaugt, und mit ned amoi Wurmleecha drin! A dees waar gfeit!”).
Die Kapelle ist so beeindruckend alt, dass sie noch nicht mal einen Vorraum hat. Klar: Wer sollte denn 1480 groß vor der Kirchentür ramentern, wenn ohnehin nur geladene Hochadlige in den Innenhof dürfen. Bis heute haben sie da nicht mehr als eine zugige Holztür, hinter der man nahtlos in den Kirchenraum hineinfällt.
Leider haben sie auch keine Heizung und kein gescheites Licht. Nicht mal am hellerlichten Mittag, solang ich in den höchst überschaubaren Bankreihen gesessen bin (hörenswert das armesünderhafte Zwölfuhrläuten), in das vertieft, worein sich der großstädtische Agnostiker humanistischer Prägung statt des Gebets vertieft. Die Bilder aus dem Kircheninneren werden deshalb mit normalem Freizeitequipment nicht schärfer als so:
Und das ist noch gephotoshoppte A-Qualität. Worein sich so ein urbaner Hu- und Germanist aber so vertieft? Angesichts solcher Schätze der Spätgotik zum Beispiel in die
Rede des todten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sey.
Jetzt sank eine hohe edle Gestalt mit einem unvergänglichen Schmerz aus der Höhe auf den Altar hernieder und alle Todte riefen: «Christus! ist kein Gott?»
Er antwortete: «es ist keiner.»
Der ganze Schatten eines jeden Todten erbebte, nicht blos die Brust allein, und einer um den andern, wurde durch das Zittern zertrennt.
Christus fuhr fort: «Ich ging durch die Welten, ich stieg in die Sonnen und flog mit den Milchstraßen durch die Wüsten des Himmels; aber es ist kein Gott. Ich stieg herab, so weit das Seyn seinen Schatten wirft und schauete in den Abgrund und rief: Vater, wo bist du; aber ich hörte nur den ewigen Sturm, den niemand regiert, und der schimmernde Regenbogen aus Wesen stand ohne eine Sonne, die ihn schuf, über dem Abgrunde und tropfte hinunter. Und als ich aufblickte zur unermeßlichen Welt nach dem göttlichen Auge, starrte sie mich mit einer leeren schwarzen bodenlosen Augenhöhle an; und die Ewigkeit lag auf dem Chaos, zernagte es und wiederkäuete sich. – Schreiet fort, Mißtöne, zerschreiet die Schatten: denn Er ist nicht!»
Die entfärbten Schatten zerflatterten, wie weißer Dunst, den der Frost gestaltet, im warmen Hauch zerrinnt; und alles wurde leer. O da kamen, schrecklich für das Herz, die gestorbenen Kinder, die im Gottesacker erwacht waren, in den Tempel, und warfen sich vor die hohe Gestalt am Altare und sagten: «Jesus! haben wir keinen Vater?» – Und er antwortete mit strömenden Thränen: «wir sind alle Waisen, ich und ihr, wir sind ohne Vater.»
Da kreischten die Mißtöne heftiger – die zitternden Tempelmauern rückten auseinander – und der Tempel und die Kinder sanken unter – und die ganze Erde und die Sonne sanken nach – und das ganze Weltgebäude sank mit seiner Unermeßlichkeit vor uns vorbei.
Aus: Jean Paul: Siebenkäs, 1796–97;
cit. n. Madame de Staël: Über Deutschland.
Zweiter Theil. II. Abtheilung.
Acht und zwanzigstes Capitel: Von den Romanen,
stark gekürzt.
Wie eingangs gesagt, war der Weihnachtsmarkt geschlossen.
(Die Bilder sind meine. Die dürfen Sie gern für nichtkommerzielle Zwecke benutzen, wenn Sie dazusagen, von wem sie sind.)
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