Altötting leuchtet. Der frühe Städtetourist schaut dem Kapellplatz beim Aufwachen zu, der Himmel darüber hat vor lauter Freude über das allgemeine Wiederauferstehen in seinem Weiß-Blau sogar die weißen Wölkchen vergessen, bis auf ein einziges Schäfchen. Die Devotionalieneinzelhändler um die Gnadenkapelle herum entzünden an ihren Auslageständen mindestens vier Sorten Weihrauch, damit auch der weltlich orientierteste Pilger gleich erschnuppert, wo er hingeraten ist. Riecht gar nicht schlecht, nach Frühmesse, Gratis-Mitbenutzung legaler Psychedelika und Ausräuchern aller Sünden.

Ich verlaufe mich in den historischen Gässchen ums Zentrum. Man geht hier nie lange verloren, an jeder Ecke wartet eine Kirche, die man schon seit dem Bahnhof (Bahnhof des Jahres 2020!) von den Wegweisern beim Vornamen kennt. Die meisten davon sind schon fleißig befasst mit ihrem wochentäglichen Gottesdienstprogramm. Jede Rosenkranzandacht findet genug Fans, die den Rosenkranz auswendig können, dass man ihr Gemurmel bis draußen hört.

Die Straßen und Kirchvorplätze gehören noch den Devotionalienhändlerinnen mit anscheinend heidnischen Hintergründen und mir leider etwas weltlich orientiertem Pilger. Ich betrachte die Auslagen aus geweihten und selbstständig zur Weihe vorzuführenden Kerzen, Repliken der allgegenwärtigen Schwarzen Madonna in allen Größen, Klosterlikören der weltoffensten Provenienz, kunsthandwerklichen Gegenständen ortsansässiger Hausfrauen und Nonnen, Pilgerbier als Sixpack in Bügelflaschen, erbaulichen Spruchweisheiten aller Weltreligionen, solange sie tief genug im allgemeingültig Vagen verharren, um dem römisch-katholischen Glauben nicht geradewegs zu widerspechen, und Grünen Skapulieren vom Unbefleckten Herzens Mariens. In der soeben ihre Pforten aufschließenden St.-Antonius-Buchhandlung erwäge ich den Kauf des dreibändigen Lexikons der Heiligen und Heiligenverehrung, Herder 2003, aber für den Verlagspreis hätte ich es wenigstens gesegnet haben wollen; siehe auch: avaritia; acedia.

Die jungische Sintiza im wehenden Leinenmantel mit dem schlaffen Einkaufsbeutel läuft mir schon die dritte Altstadtgasse lang in einigem Abstand hinterher.

“Spende bitte!” ruft sie mir von hinten zu, “Spende, bitte Spende!”

“Gehen Sie halt ein bissel näher an die Hausmauern”, sag ich, “die spenden Schatten.”

Sie versteht gut genug Deutsch. Ihr Abstand vergrößert sich.

“Ja, ja!” schreit sie mir hinterher, “ja, ja! Jesus Christus! Ja!”

Gut gegeben; ich grinse anerkennend in mich hinein, damit sie sich nicht ausgelacht fühlt. Woher kann sie denn auch wissen, dass Pilgernde meines Schlages in so sakraler Umgebung nicht ihren Herrgott feiern, der sich schließlich allüberall finden lässet, sondern Folklore gucken gehen.

Ich gehe in Kirchen unterschiedlicher Widmungen und Baustile mein Kreuzlein schlagen und vor allem ins seit Jugendtagen anvisierte Jerusalem-Panorama “Kreuzigung Christi”, das mich mein Tagesbudget Eintritt kostet (4,50 Euro), vergesse auch einen Abstecher ins drei Kilometer beiseite liegende Neuötting nicht, verzehre vor der dortigen Nikolauskirche zwei mitgebrachte Äpfel und ein Dextro Energen, weil Verschwendung keine geringere Sünde wäre denn Habsucht, und mache mich auf den Rückweg zum Bahnhof des Jahres 2020.

Der russisch geführte Supermarkt namens R·markt in der Bahnhofstraße hat regionale Äpfel für 99 Cent das Kilo, ich muss also rein, damit ich nicht mit noch leereren Händen heimkomme, als ich weggefahren bin. Es gibt auch Salzgurken aus kaukasischer Rezeptur und etwa fünfzig Kühlregalmeter sehr unterschiedlich gewürzter Speckseiten.

Auf der Straße wartet die jungische Sintiza im wehenden Leinenmantel mit dem prallvollen Einkaufsbeutel.

“Spende bitte!” sagt sie, “Spende, bitte Spende!”

“Ja, ja”, sag ich, “Jesus Christus.”

Sie erkennt mich. Leider haben wir alle vier Arme voll zu schleppen, darum lächeln wir nur und verneigen uns voreinander im tiefsten Respekt.

Altötting leuchtet.

Soundtrack: Vagabon featuring Courtney Barnett: Reason to Believe, 2021: