All der Krieg, die Propaganda, all das Geschrei, die Lügen und der Hass kommt immer nur von den Leuten, die nicht kämpfen müssen. George Orwell
Wie viele Verwandtschaften hat auch meine nichts vom Krieg erzählt
Null.
Und erst recht nichts vom Opa, der am 6. November 1939 gefallen ist.
Gottseidank gibt es das Internet und ich fand ihn. Sein Foto. In groß. In einem Archiv der Gefallenen, teilweise ergänzt von der Kirche.
Jetzt weiß ich, wie er aussieht. Bis dahin hatte ich nur flüchtig sein Hochzeitsfoto gesehen, das bei Oma hing – und kurz eine dicht beschriebene Postkarte von ihm an meine Oma.
Ausgesprochen liebevoll, dass er sie und die Söhnchen sehr vermisst. In einer ausgefeilten, sehr kleinen kursiven, wunderschönen Schreibschrift. Da war er in Serbien. Auf Montage, denn zuhause gab‘s keine Arbeit, und er schickte seiner kleinen Familie pünktlich seinen Lohn.
Auf dem Archivbild hatte er braune Augen und einen ‘touthbrush moustage‘, einen Zahnbürstenbart wie der damalige Reichskanzler. Uff, wow. Mann echt, warum. Ich lege einen dünnen Stift unter seine Nase und versuche mir vorzustellen, wie er ohne ausgesehen haben könnte. Opa Karl ist laut Archiv im Alter von 39 am 6. November 1939 im polnischen Dorf Rudnik gestorben und begraben. Das ist neben dem größeren Ratibor. Da gab es Zwangsarbeitslager, eines für polnische Zwangsarbeiter, eines für jüdische. Hat er am Ende als Pionier helfen müssen, Lager zu errichten? Oder auch Polen und polnische Juden zu jagen, einzusperren, zu beaufsichtigen und zu drangsalieren? Oder fiel er woanders und ist nur in Rudnik begraben?
Mir hat man gesagt, er wäre bereits im Zug hin an die Ostfront bombardiert worden. Was vermutlich dann nicht stimmte. Oder war es doch wahr? Meine Verwandtschaft wird mir da nicht mehr viel sagen können, Oma ist nicht mehr unter uns und der Rest will von Vergangenem nicht viel wissen.
Ich weiß jetzt auch, wie sein Cousin aussieht, am 11. Mai 1912 geboren, der seit Winter 1942 in der Hölle von Stalingrad als vermisst gilt. 32 Jahre jung. Kecke Tolle, tiefliegende, sehr helle hellblaue Augen, damals noch ein ganzes Leben vor sich.
Hat er als Soldat der 6. Armee auf dem Weg in den Donbass bescheidene Hütten siegessicher und übermütig als ‚Herrenmensch’ in Brand gesteckt und Zivilisten erschossen? Wollte er aus Stalingrad fliehen, als er bemerkte, dass sie in der Falle saßen? Und wurde dann als Verräter erschossen? War er an Kannibalismus beteiligt? Ist er verhungert, erfroren oder einfach im Kriegsgefangenentransport gestorben? In welcher dunklen Stunde kurz vor seinem Tod ist ihm das Licht aufgegangen, dass das alles ein riesengroßer, schockierend blutiger Irrtum war, zu dem er von machtgierigen Verbrechern verführt wurde?
Auf dem Foto sieht er fast aus wie … mein Neffe. Das war wie ein Schlag in die Magengrube.
Ich überlege, was wäre, wenn sie noch da wären.
Wäre mein Opa wirklich so sanft und liebevoll gewesen wie im Schreiben auf der Postkarte? Oder würde er wie viele der Generation nach ihm, die Nachkriegsväter, cholerisch, autoritär herumbrüllen, den Kindern den Teddy verbrennen und bei jeder Gelegenheit zuschlagen? Wann hat es angefangen, dass er einen Landesvater gut fand, der Menschen jagen, quälen und ermorden ließ. Ich überlege, was für ein Mensch der schicke blonde Cousin gewesen war. Ein richtig pfundiger Kerl? Oder ein gewalttätiges Arier-Arschloch, das andere gemobbt und verprügelt, sich auf den Krieg gefreut hat?
Der Fund – zum ersten Mal gesehen, wie sie auf einem Foto aussehen – lässt mich einige Tage nicht in Ruh‘. Ich google Rudnik, Keine Eisenbahnlinie dort. ich sehe mir eine Stalingrad-Doku an. Kein Stein auf dem anderen, alle Häuser zerstört. Nur die Kamine ragen in den Himmel.
Gespenstisch.
Ein Anblick, wie man ihn von der Ukraine kennt: das zerstörte Bachmut. Und viele andere Städte. Platt, bis auf den Boden ausradiert, alles schwarz, verbrannt. Geistergerippe von Häusern, die gegen den perlmuttfarbenen Morgenhimmel ragen, die Menschen darin erschossen, verbrannt, gefoltert, verhungert, erfroren, verrenkt auf der Straße liegend.
Wann hört diese Verblendung auf
Wann hört man auf, den Krieg und Psychopathen gut zu finden. Aber es ploppen schon die nächsten Psychopathen auf, die Welt in Asche zu legen und zu morden und zu vergewaltigen. Warum kommen brutale, manipulative Sadisten ganz nach oben und warum führt man aus, was sie wollen.
Was läuft falsch mit der Menschheit.
Lektüre: Das Echolot, Walter Kempowski. Der Weltkrieg/Stalingrad mit Briefen der Soldaten an ihre Lieben bis 1945. Der Krieg aus der Sicht des kleinen Mannes.
Disclosure:
Dies ist eine persönliche Geschichte mit persönlichen Empfindungen gegen Gewalt und die Verheerungen des Krieges. Länder wie die Ukraine, die unter einem Aggressor leiden, gezielt zerstört werden, deren Tote man kaum mehr zählen kann, haben von Anfang an das Recht auf militärische Verteidigung für ihre staatliche Souveränität. Niemand darf ihnen das absprechen. Die Friedensbewegung der 70er muss da dringend ihren inneren Kompass prüfen. Und sich endlich an den richtigen wenden: Putin und seine Kriegs-Mafia.
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