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Kategorie: Supermarktmentalität (Seite 3 von 3)

Der Umschlag in der Krise

Update zu Osterurlaub:

Karstadt schließt. Wie gewöhnlich um 20.00 Uhr, jetzt dann bald für immer.

Sperrt Karstadt jetzt zu? Nein, die Filialen bleiben in vollem Umfang geöffnet, verspricht der Konzern.

Ja, klar. Wer der Fronleichnamsausgabe der Abendzeitung nicht glauben wollte (Seite 2).

Selbst wenn wir nie was dort gekauft haben, weil wir gleich in die Apotheke gekonnt hätten: Karstadt wird uns fehlen. Das haben sie davon, dass sie perfekt funktionierende Häuser, in denen man Sachen kaufen kann, vulgo “Kaufhäuser”, in “Erlebniswelten” umbauen mussten: eine Krise. Seitdem fallen jeden Samstag erlebnishungrige Bauern aus Münchner Vororten wie Aschheim, Augsburg, Ingolstadt, Landshut, Unterhaching und Vaterstetten (alphabetisch) über die paar Quadratmeter um den Marienplatz her und grabbeln in reduzierten Büstenhaltern. Ihr Geld überlassen sie der Tankstelle.

Dreißig Jahre ist es her, da hat mein Schulkumpel im Nürnberger Karstadt ein Federmäppchen geklaut, um den elterlichen Zuschuss für Wichtigeres zu sparen, der konnte zu Hause was erleben. So sah die Erlebniswelt Karstadt aus, und alle waren glücklich (außer meinem Kumpel). Nach Ende des Mietvertrags 2010 werden die zwei Karstadt-Häuser in der Münchner touristischen Rennmeile erwartbar in Parkhäuser oder Sammelgebäude für Dönerbratereien und Taschengeldwaschanlagen für ephemere Plastikscheiße umgebaut.

Gerade in unserem Beruf werden wir von Karstadts Dahingang einschneidend betroffen. Dort gab es nämlich die einzigen zurechnungsfähigen Briefumschläge, die ich kenne: 50er-Packungen Versandtaschen etwas größer als DIN A4, reinweiß und nicht im gängigen Braun von Umzugskartons, die schon in drei Kiffer-WGs als Kleiderschrank gedient haben, die Lasche lang genug, dass man ohne Verzweiflungsakt eine vollständige Präsentation darin verschließen kann, eine Gummierung, der man nur von weitem die Zungenspitze zeigen muss, damit sie unbarmherzig zuklebt, und als Alleinstellungsmerkmal: die Öffnung an der Längsseite!

Seit ich diese Umschläge kenne, ist mir ein Rätsel, wie irgend ein anderer Anbieter auf dem Schreibwarenmarkt je die Öffnung an der kurzen Seite anbringen konnte. Sie tun es alle.

Die einzigen Umschläge, für die wir regelmäßig Rückmeldung bekommen haben: Die sind ja klasse, wo haben Sie die her, die kann man ja richtig benutzen, sehen auch ganz edel aus, muss ich haben, warum sind nicht alle so? Meine Textaufträge für Bewerbungsschreiben schlossen immer auch die dringende Empfehlung ein, die Bewerbungsunterlagen in den längsgeöffneten weißen A4-Versandtaschen von Karstadt und keinen anderen zu verschicken, und was soll ich sagen: Die Leute wurden einer nach dem anderen genommen. Das sage ich, ohne meinen Anteil an diesen Erfolgen unnötig zu schmälern. Etwas scheint falsch daran oder unrentabel in der Herstellung, denn Deutschlands einzige diskutable Versandtaschen gibt’s jetzt nicht mehr. Weder bei Karstadt noch sonstwo.

Ich war konsumwillig, ich trat auf als informierter, mündiger Verbraucher, der eine klare Vorstellung von seinen Bedürfnissen hat, und machte mich auf zu Karstadt, um seine Konkursmasse durch einen Hamsterkauf zu entlasten. Haushaltsartikel 50 % reduziert, hing überall von der Decke; Schreibwaren halten offenbar zu lange, um sie verbilligt den verstaubten Käuzen zu überlassen, die heute noch Sachen im Umschlag statt im Download verschicken wollen.

In dem Regal, in dem ich zuverlässig seit einem Jahrzehnt die Briefumschläge meines Vertrauens wusste: alles voll kackbrauner A5-Tüten mit schmaler Öffnung, die Laschen herstellerkostenbewusst gummiert und keinen Millimeter zu lang.

Der mündige, konsumbereite Verbraucher in mir fragte die Verkäuferin, übrigens nicht die übliche Alpha-Türkin beim After-Hour-Clubbing, sondern eine respektable Substitutin mit geflügelter Hornbrille. Die erinnerte sich nicht, jemals dergleichen geführt zu haben, hielt jedoch Versandtaschen wie von mir beschrieben für eine wirklich gute Idee. Sollte man sofort erfinden.

So verstärkt sich “die Krise” selbst: Mit den anstehenden 43.000 Arbeitslosen aus der Arcandor-Insolvenz ist es ja nicht getan. Der Schreibwarensubstitutin aus dem Oberpollinger-Haus am Dom wollen wir wünschen, dass sie in ihren 40 Dienstjahren schon mal einen Rentenanspruch wenigstens auf Hartz-IV-Niveau zusammengewirtschaftet hat und beim Baron von Ullmann, Mädi Schickedanz und ihresgleichen vielleicht noch ein bissel putzen gehen kann. Aber was machen die anderen 42.999 aufstrebenden Alpha-Türkinnen, Metzgermeister, Reisekauffrauen und was sich bei Karstadt alles tummeln durfte, die noch was vorhatten im Leben, wenn sie sich jetzt weiterbewerben müssen, damit der vorsortierende Praktikant den Umschlag überhaupt öffnet? Eine witzige Diddlmaus draufkleben?

Es wird gespenstisch, so ohne Karstadt. Da kann man sich ja gleich vorstellen, dass im Straßenbild plötzlich kein Opel mehr mitfährt oder… Moment…

Nehmt den Kram und werdet froh damit

Update zu Der triviale Pursuit of Happiness oder: Lebbe is kei Twitterwidget:

Junge Leute werden viel zu früh aufgeregt und dann im Zeitstrudel fortgerissen; Reichtum und Schnelligkeit ist, was die Welt bewundert und wonach jeder strebt; Eisenbahnen, Schnellposten, Dampfschiffe und alle möglichen Fazillitäten der Kommunikation sind es, worauf die gebildete Welt ausgeht, sich zu überbieten, zu überbilden und dadurch in der Mittelmäßigkeit zu verharren.

Goethe, 1825

Das Blickfeld der Marktforschung ist kein schmeichelhafter Aufenthalt. Man müsste jedem raten, ihn zu meiden, aber man sucht sich das nicht aus. Das Blickfeld der Marktforschung ist flächendeckend bis zur Deckungsgleiche mit ihrem Forschungsgegenstand, und der sind Sie.

Ja, Sie da am MacBook Pro. Kein Grund zum Zusammenzucken. Sie sind auch nicht besser durchschaut als Ihr Nachbar mit dem fünfjährigen Medion, mehr als hundert Prozent geht nicht. Und ich, Ihr freundlicher Anbieter grandioser Texte, ja dann auch irgendwie. Wissen Sie, wie die uns nennt, die Marktforschung, übrigens im Gefolge aller Industrien, die uns Gegenstände und Abstrakta zu verkaufen suchen?

Endverbraucher.

Eine Un. Ver. Schämt. Heit. Endverbraucher, das klingt wie der Arbeitstitel für einen neuen Beschleuniger zum Kompostieren. Nach einem fettleibigen Ritalinopfer, das dauernd angebraust kommt und die schönen neuen Sachen kaputt macht, die es nicht zusammenfressen kann. Nach Enddarm. Nach dem letzten Arschloch. Und jetzt raten Sie mal, was dem Endverbraucher folgerichtig zugestanden wird.

Qualitätshaltige Gegenstände und Abstrakta, nennen wir sie Produkte und Dienstleistungen? Ja nee, is klar, ne. Und seit jeder vom Ein-Euro-Jobber bis zum Papst jeder mal irgendeine Grundausbildung in Marketing mitgemacht hat, benimmt er sich auch so, der Endverbraucher, und gibt sich mit der letzten Scheiße zufrieden. Ohne von ferne darauf zu verfallen, dass es anders gehen könnte.

Schon reiht sich das Wort Qualität in die Kuriositäten aus dem Wortmuseum: als etwas, das Ihre Oma in den Gugelhupf gerührt hat, drei Vaterunser lang zum Herzen hin. Die Hirnregion für Qualität ist eine Art Steißbein, die für Kosten-“Bewusstsein” wuchert. Qualität soll’s noch geben, auf so einem Hippie-Bauernhof hinterm Chiemgau, gar nicht schlecht, sagt der Berufstrendsetter im Starbucks mit den grauen Schläfen, der bei Manufactum einkauft, sollten Sie sich ruhig mal ein Portiönchen kommen lassen, ist richtig süß, aber lassen Sie sich nicht übern Tisch ziehn, die nehmen’s vom Lebendigen! Abgesehen davon überlebt Qualität in der Philosophischen Fakultät als Kantische Kategorie, aber nichts, was man heute oder morgen mal brauchen kann, so als Endverbraucher.

Wir sind Endverbraucher geworden, weil wir dachten, das heißt halt jetzt so. Fragt noch jemand, ob Sprache Gedanken bildet oder ausschließlich umgekehrt? Diese fundamentale Missachtung unserer Rolle als einer von zwei gleichwertigen Geschäftspartnern rächt sich jetzt an allen Beteiligten, denn bestimmt muss sogar der Ackermannsepp ab und zu ein Häppchen essen. Wahrscheinlich Tütensuppe. Und an Feiertagen, weil er sich’s leisten kann, was Richtiges. Wegen der Dings, der Qualität.

Solange das Wort Arbeitgeber Menschen bezeichnet, die Arbeit auf ihre restlichen Kapitalberge häufen, und das Wort Arbeitnehmer Menschen, die nichts anderes herzugeben haben außer Arbeit, bin ich wahrscheinlich wieder der einzige, der sich daran stört, dass ich Endverbraucher sein soll, obwohl ich mein Konsumverhalten als Investition in meine Produktivität betrachte — das ist so wie mit den Autos und dem Benzin, das sind doch die Vergleiche, die sie verstehen, die Marktforschung und die Anbieter von Produkten und Dienstleistungen.

Heute: Konsumboykott, Mutter hat fränkische Büchsenwurst von so einem Hippie-Bauernhof geschickt.

Soundtrack: Wolfgang: Trödler Abraham, 1973.

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