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Kategorie: Wolfs Höhle: Literatur (Seite 3 von 5)

Druschba s Russalkaj (Zum Verständnis von Puschkin und Putin)

Elfenbeintürme stehen in Verruf.

Das ist falsch gedacht. Die Welt, jedes Land, jede Stadt, ja wahrscheinlich jedes Haus, braucht einen Elfenbeinturm. Nicht weil ich so ein krautsköpfiger Arbeitsverweigerer bin, sondern weil ein gut geführter Elfenbeinturm das ist, was jede kulturelle Gemeinschaft von einer Horde Graugänse unterscheidet.

Bei uns ist das so: In unseren Regalreihen wohnt seit Jahren eine Auswahlausgabe von Puschkin in vier Bänden. Sie könnte vollständiger sein, weil ich Herausgebern mehr misstraue als meiner eigenen Schmökerkompetenz, aber kaum schöner. Echt antiquarisch, handlich moppelig, bombenfest gebunden, außen schmuck verziert und innen hübsch gesetzt und illustriert — kein wunder wie beeindruckender materieller Wert, nur ein ganz und gar liebenswerter Block aus vier Büchern, von dem die Welt ein Stück besser wird: Jeder wie er kann.

Die Jahreszahl darin lautet 1950, die Ausgabe ist also vermutlich 1949 erschienen und geschah zu Alexander S. Puschkins 150. Geburtstag; dergleichen Vordatierung von Büchern ist bei Verlagen bis heute weithin üblich. Der Verlag heißt: Verlag für fremdsprachige Literatur, Moskau.

Moskau 1949, Deutschland 1949. Da war außerhalb der Köpfe und Eingeweide von Elfenbeintürmern der Stalingrader Kessel sehr viel präsenter als eine Moskauer Verlegerstube. Für die Jubiläumsausgabe zum runden Geburtstag des so ziemlich beliebtesten russischen Volksdichters — Russland hält sich Volksdichter! — wurden die ausgewählten Werke neu übersetzt, erschlossen und kommentiert. Das Inhaltsverzeichnis weist unterschiedliche Übersetzer aus, allesamt mit deutsch lautenden Namen, als Herausgeber zeichnet ein W. Neustadt. Um pünktlich 1949 fertig zu werden, müssen sie einige Jahre vorausgeplant und sich noch inmitten Kriegs- und Nachkriegswirren drangesetzt haben.

Sie haben richtig gehört: 1945 oder jedenfalls ziemlich knapp nach Weltkriegsende wurden in Moskau, der Hauptstadt des deutschen Hauptfeindes, deutsche Gelehrte einer orchideenhaften Fachrichtung beschäftigt, um einen Märchenerzähler und Gedichteschreiber zu feiern. In einer Stadt, die im Krieg ihrerseits wesentlichen Schaden an Menschenleben, Gebäuden und Volksseele genommen hatte, nicht zuletzt durch Schuld von deutschen Landsleuten — auf einem verdammten Trümmerhaufen. Und zwar noch bevor die mittelfreundlich regierte Besatzungszone im Feindesland ein mittelmäßig geliebter Vasallenstaat wurde. Wahrscheinlich um ein Zeichen des Friedens nicht wohlfeil auszusprechen, sondern über nicht absehbare schwere Jahre hinweg zu leben, in dem Bewusstsein, dass es so ja wohl nicht lange weitergehen kann.

Ist dergleichen vorstellbar? Nicht immer, nicht überall, nicht unter allen Umständen. Aber in unserer Puschkin-Ausgabe steht’s drin, in kyrillischem Russisch und in Deutsch und, so wörtlich, “printed in the Union of Soviet Socialist Republics”. Das ist nicht weniger denn, mit Verlaub: heldenmütig.

Wenn man heute von Russland hört, dann von Gospodin Vladimir Putin. Nein, ich verstehe nichts davon, was dieser Mann treibt, und wenn, dann treibt er es sicher nicht allein. Mir macht einfach Angst, was er mit einem der tollsten Länder der Welt anstellt, für das er verantwortlich ist, und mit einigen anderen, zu denen er — ebenfalls schon rein aus Verantwortung — freundschaftliche Verbundenheit pflegen sollte; wenn der Krieg auf deutschen Boden lappt, werde ich schon beizeiten davon erfahren. Ich verstehe nur, dass er mit den Palmenstränden der Krim und dem kältesten bewohnten Punkt der Erde, mit wahrlich nicht enden wollenden Ebenen und gerade mal so grob kartographierten Gebirgen, mit den Hirschkäfern der Taiga und den Tigern der Kamtschatka, mit dem stillen Don, Wolga, Dnjepr und Ob, lauter väterlich gewaltigen, erdteilbeherrschenden Strömen, die Mississippi und Amazonas, Rhein und Donau in nichts zurückstehen, mit Millionenstädten, die annähernd lückenlos aus Weltkulturerben bestehen, und so weiten Steppen, dass sie mehr als einmal durch bloßes Herumliegen ein angreifendes Resteuropa ausgehungert haben, mit Menschen, die sich auf so unnachahmliche Leistungen verstehen wie eine so ausgefeilte wie ergreifende Volks- und eine höchst eigenständige klassische Musik, eine weltweit beispielgebende Literatur, einen Wodka, der kein Schädelweh verursacht, einen bestürzend schwarzen Rotwein oder eine Vielfalt von Suppen, deren jede mit dem Körper auch den Geist kräftigt, mit einem geschlagenen Siebtel der Weltproduktion an wissenschaftlichen Arbeiten und einem Fünftel der Erdoberfläche (die Meerflächen eingerechnet) — dass Putin, sagte ich, mit all diesen herzweitenden Gottesgaben, auf die jeder Landesbewohner tatsächlich so etwas wie stolz sein könnte, ohne sie persönlich erfunden zu haben, umspringt wie ein verzogener Rotzbengel von fünf Jahren, dass man laut Scheiße schreien und ihm sein Land aus den Händen reißen und vorsorglich eine schallern möchte, bevor er noch mehr kaputt macht. Und dass in der Zeitung dauernd über ihn geredet wird wie über einen tollwütigen Pitbull, den man mit keinem Wort reizen darf, weil er sonst reflexartig alle totbeißt und das ganze Haus in rauchende Trümmer legt — und dass man ihn da doch verstehen muss.

Kann diese, um nicht beleidigend zu werden: diese Führungskraft, die offensichtlich nie ansatzweise verstanden hat, was ihre Aufgabe ist, nicht einmal im Leben anteilnehmend einen Elfenbeinturm besuchen, wie sie hoffentlich immer noch in Moskau und sonstwo auf der Welt vorkommen? Man würde ihn in jedem einzelnen davon respektvoll empfangen und mit aufrichtiger Freude willkommen heißen, egal was er zuvor angestellt hat, da wette ich meine Puschkin-Ausgabe drauf. Da kann er was lernen, was für einem Land er vorsteht und in was für einer unwiederbringlich wahnsinnig wunderschönen Welt er leben darf, da schicken wir ihn und jeden, der beruflich lebendige Leute beeinflussen soll, mal pflichtterminmäßig hin.

Und unsern kranken Nachbarn auch.

95 Jahre Gefreiter a. D. Josef Schwejk

Heute vor hundert Jahren: Da war grade Julikrise. Haben ja unter ihren Pickelhauben irgendwie die Zeit rumbringen müssen, nachdem sie am 28. Juni den Franz Ferdinand in seinem Automobil erschlagen und am 28. Juli Serbien richtig den Krieg erklärt haben.

Das hat sich dann hingezogen bis 1918. Der Salon-Eisenbahnwaggon in Compiègne, in dem sie den Waffenstillstand unterschrieben haben, steht da noch auf einer Waldlichtung. Sollte erst nur 36 Tage dauern, der Stillstand, danach hat sie’s schon selber genervt.

Der Waggon wird bestimmt bis heute aller Monate von einer kittelschürzigen femme de menage mal nass durchgewischt. “Krieg is nur für reiche Lajte”, sagt Schwejk, und am Schluss im Kelch: “An diesen Krieg werd’ ich noch wochenlang denken.”

Wenigstens sind wir die Gedenkfeiern schon gewöhnt, wenn am nächsten achten Mai der Zweite Große Krieg siebzig Jahre aus ist, und dann darf gern endlich Ruhe sein mit dem Kriegsgetümmel. Am besten für immer und überall.

Alles zerfällt im Augenblicke, wenn man nicht ein Dasein erschaffen hat, das über dem Sarge noch fortdauert.

“Die Frage ist doch: Warum ist in der Winkler-Ausgabe von Adalbert Stifter im Band mit den ‘Studien‘ auch ‘Die Mappe meines Urgroßvaters’ drin — und dann im Briefe-Band gleich nochmal?”

“Weil in manchen Handy-Verträgen Auslandsfreiminuten drin sind und in manchen nicht?”

“Und ich dachte schon, weil die meisten Leute zwei Urgroßväter haben.”

Kluges Kerlchen.”

Wir raten zu: Adalbert Stifter: Sämtliche Erzählungen nach den Erstdrucken, dtv 2005;
Wir raten ab: Adalbert Stifter: Sämtliche Erzählungen nach letzter Hand, Der Nachsommer, Witiko — und “Die Mappe meines Urgroßvaters” in der Fassung von 1847. Die sind alle breitärschig und senil, anheimelnd und tauglich für Freibad und Kaminfeuer sind die “Studien” in Erstfassung.

May contain language/Kann Spuren von Aussagen enthalten

Alle Welt hat dieses Buch gelesen, aber sich noch niemand erschossen. […] Ich weiß aber, daß einer sich erhängt hat, der einen theologischen Schrieb gegen Goethe bis zum Ende durchgelesen hat.

Christian Gottlieb Hommel, 1778.

Nach dem Essen, Rauchen, Vögeln und Radfahren wurde endlich auch das Bücherlesen als gesundheitsgefährdend erkannt — ausnahmsweise kein Witz, und vorerst nur in Amerika, wo alles Gute herkommt, das erfahrungsgemäß fünf Jahre bis Europa braucht. Bücher (und die alten Papierstöße, die ebenfalls Bücher heißen) sollen deshalb im weiteren Verlauf Trigger warnings tragen, die Schwangere, posttraumatisch Belastete, Minderjährige und Simpel vor den Folgen des Lesens bewahren.

Warum ich das verstehe: Auf CDs und Computerspielen muss ja auch irgendwo draufstehen, wenn irgendwann in den siebzig Minuten einer kurz “Fuck” dazwischennuschelt: “Contains explicit lyrics”; Museen sind gehalten, ihre letzten gelangweilten Rentner zu vergraulen, indem sie das “Material” anprangern, das “manche Besucher als verletzend empfinden” können. Die fürsorgliche Zensur, die keine sein mag, hebt uns also schon niemand mehr auf.

Dolly's Underworld of Edits, 9. Januar 2014Beim Konsum schon geringer Dosen Marcel Proust werden häufig Anfälle von Narkolepsie beobachtet. Beim Hinaufkraxeln zum Buchstaben A in der Stadtbücherei hat’s mich als Kind mal fast von der Leiter grebröselt. Die leichtfertigen Ermutigungen in “Fifty Shades of Grey” (ich hoffe, das ist nicht übersetzt…) führen immer wieder zu Haushaltsunfällen — der häufigsten Todesursache nach dem Missbrauch von Tabak und Lebensmitteln. Wenn also heutzutage immer noch das Gehen auf Straßen, das ungeschützte Kochen von Kaffee und das Betreiben von Wäschetrocknern, in denen sich Personen und Wellensittiche aufhalten können, legal sind, muss wenigstens jeder Nutzer von Bierflaschen und Büchern jedes liebe Mal wieder darauf gestoßen werden, dass einem von Frank Schätzing mindestens so schlecht wird wie von Oettinger Hell. Überhaupt rechne ich seit jeher zu meinem Recht auf freie Information – und schätze es hoch –, dass ich Sachen, die ich nicht vertrage, nicht lese.

Warum ich das nicht verstehe: Wer geldwert arbeitet, kann gar nicht risikofreudig genug sein. Ein Job, der nicht gleich eine “Herausforderung” ist, kann nur liederliche Freizeit sein. Und in der Freizeit, die man sich politisch noch nicht so recht der freien Verfügung des Arbeitsviehs zu entwinden traut, muss es am sorgfältigsten beaufsichtigt werden. Aber Shakespeare stiftet zum Antisemitismus an (“Der Kaufmann von Venedig”!), E.T.A. Hoffmann zur Verhöhnung von Obrigkeiten (“Meister Floh”!) und zum Saufen (“Der goldne Topf” u.ö.), Erich Maria Remarque zur Vorbereitung eines Angriffskriegs und Rosamunde Pilcher zum voreiligen Auswandern nach Cornwall? Die neue, viel weiter reichende Qualität daran ist, dass nicht mehr moralisch zum Schutz von Minderheiten argumentiert wird, sondern gesundheitlich. Eine Zensur findet nicht statt. Eine Frechheit schon, aber die steht in keiner Landesverfassung.

Warum ich das überhaupt nicht verstehe: Seit wann wird Literatur so ernst genommen? Zuletzt ist das mit dem “Werther” passiert, der “eine Empfehlung des Selbst Mordes” sein sollte. Aber das war punktuell in einzelnen Städten, voran Leipzig, mit einem einzigen Buch, und es war 1775, tief im Feudalismus, kurz vor der Französischen Revolution. Und ich bin nicht sicher, ob das hierher gehört.

Ungesunder Lesestoff: Dolly’s Underworld of Edits, 9. Januar 2014.

Meistens ist offen.

Türschild Geschäftszeit Antiquariat Hauser, Schellingstraße 17, München

Die Stunden verrannen unmerklich, und noch immer schritt ich mit hungrigen Augen prüfend von Regal zu Regal, als ich in einer Ecke einige grosse, eben erst geöffnete Kisten erblickte und bei ihnen den Buchhändler, wie er sorghsam Band um Band heraushob, aus der Papierhülle befreite, aufmerksam die für seine Kataloge erforderlichen Angaben notierte und nach kurzerm von jahrelanger Übung zeugender Überlegung, rasch und sicher neben jedes Buch seiner Liste den Preis setzte. Ich trat hinzu und fragte nach Herkunft und Inhalt der Sendung; worauf er mir, mich mit den alten klugen Augen ansehend, vertraulich und wie einem Eingeweihten seine Auskunft erteilte. Die Bücher kamen aus Upsala und enthielten in bunter Reihenfolge Werke von Holberg und Sars, seltene Nachdrucke älterer deutscher Dichter wie Fouqué und Wieland und ganze Reihen von Öhlenschläger Ausgaben und Übersetzungen. Ich griff nach dem nächsten Stapel und sah eine Ausgabe der Werke von E.T.A. Hoffmann in 10 Bänden, Berlin, 1827–28 in entzückenden grünen Einbändenmit goldenem Rückenschildchen; ich hatte zufällig den Band herausgegriffen der die “Prinzessin Brambilla” enthielt mit ihren Kupfern nach Jacques Callot, den phantasstischen Masken und ihren seltsamen Tänzen, und dachte der Stunden, da ich zuerst bei sommerlichem Lampenschein die Erzählungen des Kammergerichtsrates las und in ihm den großen Zauberer und Dichter verehren lernte.

Arno Schmidt: Die Insel, 1937, Einleitung,
in: Bargfelder Kassette 1, Juvenilia.

Ludwig Tieck is coming home

Vorher: Aus dem Antiquariat Stefan Küpper, Duisburg. Wölfchen-Anhänger aus Thoddys Wolf-Kinderclub, ca. 1999:

Briefkasten

Nachher: Ludwig Tieck: Frühe Erzählungen und Romane, Winkler-Verlag München, 1963: Franz Sternbalds Wanderungen, Waldlied, 1798:

Ludwig Tieck, Franz Sternbald, Doppelseite

     Waldnacht! Jagdlust!
Leis und ferner
Klingen Hörner,
Hebt sich, jauchzt die freie Brust!
Töne, töne nieder zum Tal,
Freun sich, freun sich allzumal
Baum und Strauch beim muntern Schall.

     Kling nur Bergquell!
Efeuranken
Dich umschwanken,
Riesle durch die Klüfte schnell!
Fliehet, flieht das Leben so fort,
Wandelt hier, dann ist es dort –
Hallt, zerschmilzt, ein luftig Wort.

     Waldnacht! Jagdlust!
Daß die Liebe
Bei uns bliebe,
Wohnen blieb’ in treuer Brust!
Wandelt, wandelt sich allzumal,
Fliehet gleich dem Hörnerschall: –
Einsam, einsam grünes Tal.

     Kling nur Bergquell!
Ach betrogen –
Wasserwogen
Rauschen abwärts nicht so schnell!
Liebe, Leben, sie eilen hin,
Keins von beiden trägt Gewinn: –
Ach, daß ich geboren bin!

Und als ich aufblickte zur unermeßlichen Welt nach dem göttlichen Auge

Andere entkommen Weihnachten nicht, ich entkomme meinem Job nicht: Kaum betritt man Schloss Blutenburg, schon ist der Weihnachtsmarkt geschlossen, von der Internationalen Kinder- und Jugendbibliothek, Erich-Kästner-Zimmer, Michael-Ende-Museum, Binette-Schroeder-Kabinett, James-Krüss-Turm und Agnes Bernauers Bett ganz zu schweigen. Touristentipp: Winterwochentags früh um zehn hat man die Münchner Sehenswürdigkeiten praktisch für sich.

Vielmehr sagt mir der Weihnachtsmarkt als erstes dezent, womit ich eigentlich beschäftigt sein sollte:

A

In die meisten der Sehenswürdigkeiten hätte ich sowieso nicht reingekonnt: Sich über 18 alleine in der Internationalen Kinder- und Jugendbibliothek rumzutreiben hat so was Pädophiles, und sich in Agnes Bernauers Bett rumtreiben hat wieder was Nekrophiles, außerdem lassen sie einen das bestimmt nicht mal unter 18.

Dagegen darf man heute in die Schlosskapelle, auch wenn man nicht dem Adel angehört, und die ist wirklich schön. Die vollständigste Kirchenausstattung der Spätgotik in Deutschland war in Teilen 1971 kurzzeitig bei Walter Sedlmayer selig im Wohnzimmer. Des Kirchenraubs und der Hehlerei wurde er nach fünf Tagen U-Haft wieder freigesprochen, wie die Blutenburger Madonna allerdings da hingekommen war, verraten sie einem im Internet bis heute nicht (“Huch! A Madonna vo 1488! Wia liab dass’ herschaugt, und mit ned amoi Wurmleecha drin! A dees waar gfeit!”).

Die Kapelle ist so beeindruckend alt, dass sie noch nicht mal einen Vorraum hat. Klar: Wer sollte denn 1480 groß vor der Kirchentür ramentern, wenn ohnehin nur geladene Hochadlige in den Innenhof dürfen. Bis heute haben sie da nicht mehr als eine zugige Holztür, hinter der man nahtlos in den Kirchenraum hineinfällt.

Leider haben sie auch keine Heizung und kein gescheites Licht. Nicht mal am hellerlichten Mittag, solang ich in den höchst überschaubaren Bankreihen gesessen bin (hörenswert das armesünderhafte Zwölfuhrläuten), in das vertieft, worein sich der großstädtische Agnostiker humanistischer Prägung statt des Gebets vertieft. Die Bilder aus dem Kircheninneren werden deshalb mit normalem Freizeitequipment nicht schärfer als so:

Christus Schlosskapelle Blutenburg

Und das ist noch gephotoshoppte A-Qualität. Worein sich so ein urbaner Hu- und Germanist aber so vertieft? Angesichts solcher Schätze der Spätgotik zum Beispiel in die

Rede des todten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sey.

Jetzt sank eine hohe edle Gestalt mit einem unvergänglichen Schmerz aus der Höhe auf den Altar hernieder und alle Todte riefen: «Christus! ist kein Gott?»

Er antwortete: «es ist keiner.»

Der ganze Schatten eines jeden Todten erbebte, nicht blos die Brust allein, und einer um den andern, wurde durch das Zittern zertrennt.

Christus fuhr fort: «Ich ging durch die Welten, ich stieg in die Sonnen und flog mit den Milchstraßen durch die Wüsten des Himmels; aber es ist kein Gott. Ich stieg herab, so weit das Seyn seinen Schatten wirft und schauete in den Abgrund und rief: Vater, wo bist du; aber ich hörte nur den ewigen Sturm, den niemand regiert, und der schimmernde Regenbogen aus Wesen stand ohne eine Sonne, die ihn schuf, über dem Abgrunde und tropfte hinunter. Und als ich aufblickte zur unermeßlichen Welt nach dem göttlichen Auge, starrte sie mich mit einer leeren schwarzen bodenlosen Augenhöhle an; und die Ewigkeit lag auf dem Chaos, zernagte es und wiederkäuete sich. – Schreiet fort, Mißtöne, zerschreiet die Schatten: denn Er ist nicht!»

Die entfärbten Schatten zerflatterten, wie weißer Dunst, den der Frost gestaltet, im warmen Hauch zerrinnt; und alles wurde leer. O da kamen, schrecklich für das Herz, die gestorbenen Kinder, die im Gottesacker erwacht waren, in den Tempel, und warfen sich vor die hohe Gestalt am Altare und sagten: «Jesus! haben wir keinen Vater?» – Und er antwortete mit strömenden Thränen: «wir sind alle Waisen, ich und ihr, wir sind ohne Vater.»

Da kreischten die Mißtöne heftiger – die zitternden Tempelmauern rückten auseinander – und der Tempel und die Kinder sanken unter – und die ganze Erde und die Sonne sanken nach – und das ganze Weltgebäude sank mit seiner Unermeßlichkeit vor uns vorbei.

Aus: Jean Paul: Siebenkäs, 1796–97;
cit. n. Madame de Staël: Über Deutschland.
Zweiter Theil. II. Abtheilung.
Acht und zwanzigstes Capitel: Von den Romanen,
stark gekürzt.

Wie eingangs gesagt, war der Weihnachtsmarkt geschlossen.

B

(Die Bilder sind meine. Die dürfen Sie gern für nichtkommerzielle Zwecke benutzen, wenn Sie dazusagen, von wem sie sind.)

Und zwar es ist ja doch so.

Es fällt bestimmt wieder nur mir auf, aber unsere Wortbeiträge werden immer kürzer, zugunsten von Bildern. Ende des Meta-Bloggings, Anfang der Begründung:

Ich bin mit Lyrik aufgewachsen und mit Werbetext halbwegs was geworden. In beiden Disziplinen ist jedes Wort kostbar. In der ersten holpert bei jedem überflüssigen Wort sofort alles, in der zweiten mosert der Grafiker über die Anschlagszahl. Bevor ich ein Adjektiv hinschreibe, geh ich immer erst eine rauchen. Eine Marotte, die ich mir ausschließlich beim Bloggen erlaube, sind bekräftigende oder relativierende Partikel wie “ja”, “wohl”, an Feiertagen sogar “ja wohl”. Das dient dem Satzrhythmus, und ich bin ja mit Lyrik aufgewachsen.

Dafür spar ich mir die ganzen “absolut”, “total” und “vorprogrammiert”. Mit denen ist ein total versauter Satzrhythmus vorprogrammiert, die sind also absolut unnütz, und merken Sie was? Beim Versuch, mit solchen Staubflusen seine Beweiskraft zu steigern, müllt man sie zu. Da kann ich gleich Bilder von Katzen posten, bei denen gehören die Staubflusen zum Konzept.

Mehr Ähnlichkeit mit dem unaufgeräumten Schreibtisch denn mit der Staubfluse hat die vermutlich vom Oberdeutschen ausgehende Sitte, Texte mit “Und zwar” anzufangen, um sie ohne Inversion weiterzuführen. “Und zwar wir haben uns heute hier versammelt” hat man wahrscheinlich schon mal gelesen. “Und zwar indem dass mir sich heite hier versammelt haben dennen” sagen sie heute wahrscheinlich nicht mal mehr in Großdingharting (das heißt wirklich so). Korrekter wäre es, wenn schon nicht innerhalb des deutschen, so doch innerhalb des bairischen Sprachsystems.

Man steigert seine Beweiskraft auch nicht durch Demonstration eines möglichst fließenden Amtsdeutsch. Nominalkonstruktionen können Sinn ergeben (nicht etwa “machen”, liebe Deutschlehrer, nämlich immer wenn Tätigkeiten als potenziell aktive Sub- oder Objekte aufgefasst werden. Das zu erkennen und bitte auch zu begründen muss man allerdings raus haben), Thomas Mann verwendete aus Überzeugung den Deppenapostroph (immer nach Endvokalen: “Das Auge verlangt entschieden danach”, da können Sie ruhig mal wieder die Joseph-Tetralogie überfliegen), aber warum sollte ein Mensch “bereits” nehmen, wenn er “schon” haben kann? Vor allem: “schon bereits” ist keine Bekräftigung, sondern genau so ein Geschwür wie “bereits schon”.

Schulen wir unser Stilbewusstsein an einem der anerkannt klarsten, seit Jahrhunderten gültigen Denker, Schiller persönlich, und da am sinnvollsten an einem Text, der Spaß macht: der Mutter aller Mystery-Thriller Der Geisterseher von 1787:

Das Mädchen, welches die Königinn vorstellte, war von mir unterrichtet, und ihre ganze Rolle mein Werk. Ich vermuthete, daß es Eure Durchlaucht nicht wenig befremden würde, an diesem Orte gekannt zu sein, und (verzeihen Sie mir, gnädigster Herr) das Abentheuer mit dem Armenier ließ mich hoffen, daß Sie bereits schon geneigt sein würden, natürliche Auslegungen zu verschmähen, und nach höhern Quellen des Außerordentlichen zu spüren.

Holla. Waren ihm wohl gerade die faulen Schnupperäpfel ausgegangen, dem Meister.

Wie man sich eine Schrift besieht

Moose sind cool. Ernähren sich von praktisch überhaupt nichts — außer ein paar Ausbüchsern wie die fleischfressenden Arten Colura zoophaga (schafft maximal Wimperntierchen) und Pleurozia purpurea (verdaut nicht) —, machen nichts kaputt — nein, nicht mal Ihre Gartenmauer, und wenn doch, war’s eine Flechte —, werden von nichts und niemandem gefressen außer der Zeit, und dass sie tot sind, merkt man erst an der Änderung ihres Aggregatzustands. Manche von ihnen fangen sogar erst danach mit dem Sex an: Die bescheidensten Ackermoose setzen ihre Sporen frei, indem sie verwesen. Schön grün sind sie außerdem; na gut, die meisten. So eine entspannte Bedürfnislosigkeit muss einer erst mal hinkriegen.

Ohne genau hinzuschauen, kann einer glatt darauf verfallen, Moos gäbe es eigentlich gar nicht. Isländisch und Eichenmoos sind Flechten (Cetraria islandica und Evernia prunastri), Spanisches Moos ist sogar eine blühende Ananas (jedenfalls Bromeliacea), das Zeug in den Pflasterritzen sind Kreuzblütler (Sagina) und das an Bäumen und alten Schaufenstern Algen. Ohne einen Trick, mit dem man einfache und doppelte Chromosomensätze nachzählen kann, ist man aufgeschmissen. Im Felde eine Lupe, zu Hause ein Miskroskop und die wichtigsten Reagenzien aus der Apotheke helfen aber schon weiter.

Zu Ehren dieser stillen Gewächse rette ich aus dem Netz ein Gedicht von Siegfried von Vegesack, das auf Fach- und Besinnungsseiten öfter zitiert wird, aber eigentlich immer mit kleinen Fehlerchen gespickt (Versaufteilung, Großschreibung, Zeichensetzung, Sie kennen das ja). Es stammt aus dem Simplicissimus vom 21. Juni 1936; Lyrik im Simplicissimus zeigt es im Faksimile. Also hier als maßgeblich gemeinte Version, penibel abgetippt und korrigiert, wenn Ihnen noch Fehler auffallen, bitte nicht für sich behalten, Sie sind ja kein Moos.

Siegfried von Vegesack, Moos, Simplicissimus, 21. Juni 1936

Siegfried von Vegesack:

Moos

in: Simplicissimus, 21. Juni 1936.

Hast du schon jemals Moos gesehen?
Nicht bloß so im Vorübergehen,
so nebenbei von oben her
so ungefähr —
nein, dicht vor Augen, hingekniet,
wie man sich eine Schrift besieht?
O Wunderschrift! O Zauberzeichen!
Da wächst ein Urwald ohnegleichen
Und wuchert wild und wunderbar
im Tannendunkel Jahr für Jahr,
mit krausen Fransen, spitzen Hütchen,
mit silbernen Trompetentütchen,
mit wirren Zweigen, krummen Stöckchen,
mit Sammethärchen, Blütenglöckchen,
und wächst so klein und ungesehen —
ein Hümpel Moos.
Und riesengroß
die Bäume stehen…

Doch manchmal kommt es wohl auch vor,
daß sich ein Reh hierher verlor,
sich unter diese Zweige bückt,
ins Moos die spitzen Füße drückt,
und daß ein Has’, vom Fuchs gehetzt,
dies Moos mit seinem Blute netzt.
Und schnaufend kriecht vielleicht hier auch
ein sammetweicher Igelbauch,
indes der Ameis’ Karawanen
sich unentwegt durchs Dickicht bahnen.
Ein Wiesel pfeift — ein Sprung und Stoß —
und kalt und groß
gleitet die Schlange durch das Moos.

Wer weiß, was alles hier geschieht,
was nur das Moos im Dunklen sieht:
Gier, Liebesbrunst und Meuchelmord —
kein Wort
verrät das Moos.
Und riesengroß
die Bäume stehen…

Hast du schon jemals Moos gesehen?

Siegfried von Vegesacks Doppelheimat auf dem Blumbergshof, heute lettisch Lohbergi, und in Weißenstein/Niederbayern

Bilder: Lyrik im Simplicissimus. Die Gedichte aller Autoren;
Ansichtskarte Siegfried von Vegesacks Doppelheimat: auf dem Blumbergshof, heute lettisch Lohbergi, und in Weißenstein/Niederbayern auf Kohoutí kříž via Seniorentreff.

Happy Hallohochzeitsween, Part 11

Update zu Hochzeitstag (’cause There’s Nothing Else to Do) #10:

Heute war bei Tisch von den Frauen die Rede, und Goethe äußerte sich darüber sehr schön. »Die Frauen, sagte er, sind silberne Schalen, in die wir goldene Äpfel legen. Meine Idee von den Frauen ist nicht von den Erscheinungen der Wirklichkeit abstrahiert, sondern sie ist mir angeboren, oder in mir entstanden, Gott weiß wie. Meine dargestellten Frauen-Charaktere sind daher auch alle gut weggekommen, sie sind alle besser, als sie in der Wirklichkeit anzutreffen sind.«

Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, 2. Theil (1836), , Mittwoch, den 22. Oktober 1828, cit. n. Deutscher Klassiker Verlag.

Frauen sind gefährlich! Sie sind oft intelligenter als du glaubst!

“Na, Wölfchen? Wieder feministische Inhalte ausbreiten, um dich für den Hochzeitstag einzuschleimen?”

“Seit wann erachtest du Goethen als feministisch?”

“Dein Eckermann ist gar kein richtiger Goethe.”

Und die Lustigen Taschenbücher sind keine richtigen Entenhausener Berichte.

“Is recht, Wolf. Ich such dann schon mal meine blauen und grünen Nagellackflaschen raus. Wir treffen uns in einer Stunde am Küchentisch, wenn meine Zehen getrocknet sind.”

“Meine liebste Frau, Partnerin und Gespielin. Ich liebe dich, wenn du dich so um deine schönsten Teile kümmerst.”

“Meine Zehen?”

“Und mich.”

“Pff. Sonst nicht?”

“Aber doch. Ich lieb dich. Ewig. Ganz feste.”

“Das wollen wir in einer Stunde doch mal sehen. Und bis dahin rasier dich bitte.”

“Du auch.”

“Du bist ein alter Saubär.”

“Rwarrrrr.”

My body’s broken, yours is bent: Placebo: Every You, Every Me, aus: Without You I’m Nothing, 1998.

Nochmal zum Mitsingen:

Eine Korrelation ist nicht zwingend eine Kausalität.

Ferner ergeht Empfehlung für ein Urgestein des Internets: Der Neue Physiologus. Enzyklopädie der Erfahrungen ist so spannend und lehrreich wie am ersten Tag, wahrscheinlich nur noch größer. Bringen Sie viel Zeit mit. Zwei Stunden sollten es schon sein. Ach was, nehmen Sie zwei Wochen. Da steht nämlich der Gegenwert ein Buches drin. Buch, Bücher, des Buches: Das war mal so eine Art Kindle-Ausdruck, wer’s noch kennt. Schönes Wochenende.

Bild: Frühe Morgenstunden nach dem Vatertag 2011; groß.

(Update zu Bei meinem Leisten, 9. April 2010.)

PS: Leider muss ich aus juristischen Gründen an dieser Stelle vermerken, dass das Bildmaterial meinem eigenen Copyright unterliegt, weil ich keine 8000 Euro zuviel hab. Die Bilder sind zur Gaudi auf meinem Flickr-Account, die schenk ich Ihnen.

Sophia Kabbala

Der Tratsch der Woche war ja:

Sophia Thomalla, 21, Schauspielerin, hat einen neuen Freund: Till Lindemann, 48, Sänger der Band Rammstein. Ihr Partner ist damit drei Jahre älter als ihre Mutter, “Tatort”-Kommissarin Simone Thomalla, die derzeit mit dem Handball-Nationalspieler Silvio Heinevetter liiert ist, der wiederum nur fünf Jahre älter ist als Sophia Thomalla. Davor war Simone Thomalla mit Fußball-Manager Rudi Assauer zusammen, der 21 älter ist als sie, also 66 und damit immerhin 40 Jahre älter als sein Nachfolger, aber lediglich 18 Jahre älter als Lindemann. Dessen Tochter ist übrigens etwa so alt wie Heinevetter.

Alles verstanden? Das steht in der Süddeutschen Zeitung vom 7. April 2011 im Panorama unter Leute. Muss man sich anscheinend merken, die Spalte, aber hör ich da eine gewisse Missbilligung heraus? Ach komm, ungenannt bleiben wollender Promiwatchredakteur, ist doch Frühling, da probieren die Leute halt was Neues aus. Das Verständnis und das Wohlwollen aller lebenslustigen Weiber und aller Mannsbilder, die empfänglich sind für den Welpencharme 21-jähriger Schauspielerinnen wie für die Coolness von großen Mädchen, mit denen man über alles quatschen kann außer über ihr Alter, schweben über der Familie Thomalla (wer immer das ist) und ihren Liebhabern bis ins siebente… nun ja: Glied.

Durch anderleuts Abscheu kommt man doch erst auf die richtigen Sachen, oder warum sonst schauen die ansonsten zurechnungsfähigsten Leute zielgerichtet das Füllmaterial für die Fernsehwerbeblöcke an? Warum, um bei Familie Thomalla zu bleiben, hätte meine weiland erste Freundin mich überhaupt jemals mit den Hintern anschauen sollen, wenn nicht, um in pubertierender Absicht die sozialen Vorstellungen ihrer Eltern zu widerlegen? Und warum, um von Familie Thomalla wegzuführen, gebe ich Geld, für das ich ehrbar arbeiten musste, für Errungenschaften wie die erste historisch-kritische Gesamtausgabe von Heinrich Wackenroder aus?

Den Klatsch der letzten Woche hat ein ebenfalls namenloser Restaurantkritiker über eine namentlich nicht weiter erwähnenswerte Gaststätte in eine ebensolche Zeitung geschrieben: Offenbar servierte dort die anonymste aller Servicekräfte dem Manne (möglicherweise auch dem großen Mädchen oder so jemandem), Obacht, und jetzt alle: “einen belanglosen Lollo an einer fahrlässigen Vinaigrette”.

Ist das nicht schnulli? Ein belangloser Lollo an einer fahrlässigen Vinaigrette, schmackofatz. Für mich mit einem extratrashigen Schirmchencocktail, der am besten etwas in der Qualität von “Sex on the Discosofa” heißt, bitte.

Abscheulich tolles Lied: Katzenjammer: Tea with Cinnamon, 2009.
Am Donnerstag, den 14. April 2011, live in der Muffe!

Bonus Track: Demon Kitty Rag live:

PS: Ein belangloser Lollo an einer fahrlässigen Vinaigrette. Hach.

Paperback Writer

Die Schreibung In His Own Write war vermutlich ernst gemeint. Da war John Lennon 24 und immer noch Legastheniker. Nur dass es inzwischen Kunst war, kein Rechtschreibfehler. Was macht man eigentlich seit geschlagenen dreißig Jahren ohne ihn? Alles richtig schreiben und dafür Melodien zusammenstopseln wie das OED?

Fachliteratur: John Lennon: In His Own Write;
deutsch bei Blumenbar: In seiner eigenen Schreibe.

Женщина с 5 слонов

Светлана Михайловна Гайер, geborene Иванова, ist ja jetzt auch gestorben. Die Dame kam immer namentlich vorne in den russischen Büchern vor: Swetlana, das war bestimmt jemand, der „die Russen“ übersetzen sollte, außerdem heißen nur sehr schöne Frauen Swetlana.

Sie hat es zu einem dokumentarischen Kinofilm gebracht, gerade erst 2009, vielleicht hat jemand was geahnt: Die Frau mit den 5 Elefanten (und falls das etwas ausmacht: Sie war mal hübsch), und in ihrer bildlichen Erscheinung erinnert sie in ihrer Weisheit noch mehr an die andere, noch nicht so lange verstorbene Übersetzerpersönlichkeit, Erika Fuchs (ohne Kinofilm, dafür ist ihr Museum in Schwarzenbach an der Saale in Arbeit). Frau Geier ist nicht mit sinnigen Sentenzen und windigen Weisheiten so präsent ins kollektive Gedächtnis gedrungen – Russenromane, die ohne weiteres als „Elefanten“ durchgehen, sind was für einen langen Atem.

Heute ist einzige brauchbare Übersetzung der Märchensammlung von Afanassjew die von ihr; man stößt also oft auf sie, wenn man russische Märchen sucht. Das mag anders gewesen sein, als ein erheblicher Prozentsatz der Deutschen vierzig Jahre lang zum Russischlernen gezwungen wurde. Bei mir vergilbt immer noch ein Stoß russischer Märchen mit betont groben Holzschnitten, übersetzt von namenlosen Wortarbeitern volkseigener Kombinate, die Winkler-Ausgabe von Frau Dr. Geier ist sonniger. Von ihr wird die Unverschämtheit bleiben, mit der sie die Dostojewski-Romane umbenannt hat, dass es selbst – ich war dabei – gestandene Buchhändlerinnen zerlegt: „Ach, das heißt jetzt ‚Verbrechen und Strafe’.“

Ja, „Преступление и наказание“ heißt seit auch schon wieder 15 Jahren „Verbrechen und Strafe“. Weitere 15 Jahre geb ich uns, bis die jungen Lesefröschlein gar nicht mehr „Schuld und Sühne“ sagen. Bis jetzt hört man immer nur: „Öch joh, Rüss’sch, ds hobsch moh gölärnt, obrsch könn dös nüsch moh mäh läääsn.“

Sie wäre noch gebraucht worden.

Dokumentation, die man nicht einbetten darf, weil das sonst teuer wird: Die Frau mit den 5 Elefanten.

Die Tauben (Warum denn nicht)

Update zu Doris Lessing kriegt den Nobelpreis (2007):

1.: Wolfgang Koeppen: Tauben im Gras, 1951. (Bildungsbürgerlicher Hochquatsch, leider von Ranicki kanonisiert.)

2.: Warum denn kein Wunder?
Warum denn kein Wunder?
Warum sind wir denn so mies drauf?
Lahme sehen, Blinde gehen und die Tauben fliegen auf.

Funny van Dannen, in: Melody Star, 2000.

(Gutbürgerliche Hochkomik, leider noch nicht von den Toten Hosen instrumentiert.)

Melinda Nadj Abonji erhält den Deutschen Buchpreis, SZ, dapd3.: Melinda Nadj Abonji: Deutscher Buchpreis des Börsenvereins für Tauben fliegen auf, 2010. (Endlich mal eine grundliebe Preisträgerin exakt meines Jahrgangs, die man gern mal auf ein Interview oder anderwärts treffen möchte, die sich sichtbar ehrlich über ihre Auszeichnung freut, aus eigener Beteiligung weiß, was ein Poetry Slam ist und ihr Literaturschaffen als Musikmachen begreift. Kann singen und geigen und tut es öffentlich, genau der richtige Grad an Schweizer Akzent, der nicht grotesk wirkt, lacht bestimmt ansteckend an der richtigen Stelle, nicht so eine überhübschte Langweilerin mit bildungsbürgerlichem Hochquatsch wie die von 2007. Außerdem für ein Buch mit einer Hauptfigur namens Ildikó bei einem österreichischen Verlag, der die Apokryphen von Herman Melville fürs Deutsche erschließt, was eigentlich der Job von Hanser gewesen wäre. Sollen sie doch den Nobelpreis für die Tauben stiften.)

Ungarische Serbin in der Schweiz bei österreichischem Verlag: Melinda Nadj Abonji erhält Deutschen Buchpreis, Süddeutsche Zeitung, 4. Oktober 2010, © dapd.

The hulk of a man with a beer in his hand looked like a drunk old fool

Shel SilversteinDie Wölfin hat soeben sehr treffend beobachtet: Um Country zu singen, braucht der Mensch, vor allem in seiner männlichen Ausprägung und Bühnenpräsenz, eine anständige tiefe Stimme. Da hat sie Recht (hat sie immer), und fortan kann ich mich damit trösten, dass aus mir allein deswegen nur ein Schreibfuzzi geworden ist, weil mein stimmliches Organ klingt “wiara Glasl Kunsthonig” (griaß Goot, liabe boarische Zuigruppm, schee dass’ do seids).

Johnny Cash oder Harry Rowohlt — das sind Stimmen, für die sich ein Mannsbild nicht genieren muss, grad neidisch kann einer werden. So wenig Harry Rowohlt bisher als Countrysänger hervorgetreten ist, darf man von ihm keinesfalls annehmen, dass er es nicht kann, sondern dass er nur (noch) nicht will. Was ihn dennoch mit Johnny Cash verbindet: die Freundschaft mit Shel Silverstein.

Das waren jetzt schon viele Namen auf so wenige Absätze. Merken wir uns: Johnny Cash und Shel Silverstein sind tot, Harry Rowohlt lebt noch, mazeltov.

Der Älteste von den dreien war Shel Silverstein. Für Harry Rowohlt hat er eine der schönsten Übersetzungsvorlagen geschrieben: die Kindergedichtbände Lafcadio: The Lion Who Shot Back (1963) und Falling Up (1996 — es gibt noch viel mehr!), für Johnny Cash und das Lied A Boy Named Sue.

Hätte man ihm hierzulande gar nicht zugetraut, überhaupt wohnt sträflich wenig Countrymucke im kollektiven Bewusstsein des deutschen Volkes. Aber die Deutschen in Beziehung zu dem, was manche von ihnen für Volksmusik halten, kriegen wir später mal (als kulturkritisches Pamphlet wahrscheinlich).

Für die zahlreichen Countrymucker, an denen der Deutsche an sich seit Jahrzehnten vorbeihört, hat Shel Silverstein ebenfalls Lieder geschrieben. Viele. Und meistens sind es ihre besten. Johnny Cash kennt der Deutsche zur Not, von seinem quäksenden Gassenhauer Ring of Fire her. Bei Townes Van Zandt muss er schon überlegen.

Ein Lied von Shel Silverstein erkennt man nicht sofort. Erst, wenn man drauf geschubst wird, dass es von ihm ist. Der Mann war gut genug, sich auszusuchen, für wen er schreibt. So wie Harry Rowohlt, der selbst bestimmt, was er auf seine alten Tage noch übersetzen will. Die Lieder von Silverstein sind immer die voll Wortwitz, die hörbar aus einem einzelnen Kalauer erwachsen, den er dann durchdekliniert, bis es entweder endgültig albern wird oder seine innewohnende Weisheit entwickelt. Beides ist okay, Liedertexte dürfen albern sein (siehe auch: “Yeah Yeah Yeah”, “Heidschi Bumbeidschi”, “Da Da Da”, “Wogalaweia”). Silverstein-Lieder sind deswegen über viele Jahre auf viele Stimmen verteilt. Man muss also nach ihnen Ausschau halten, was sich aber lohnt.

Wie lange war es da schon fällig, Silverstein-Lieder an einer Stelle zu versammeln! Da musste der Mann erst sterben und dann achtzig werden, bis sich jemand zu einer Tribute-CD durchrang. Gestorben ist er 1999, achtzig ist er am 25. September geworden, die CD heißt Twistable Turnable Man. Die Originalmucker waren wohl nicht mehr für ihre zuständigen Lieder aufzutreiben, aber auf der CD sind allesamt welche, die Herrn Silverstein zu schätzen wissen und seine Textarbeit nicht verunglimpfen werden. Eine der dankenswertesten Radiosendungen, die unter Ausschluss der Öffentlichkeit ein- bis zweimal im Monat, so genau steckt man da nicht drin, auf Deutschlandradio Kultur Berlin von zwei bis fünf Uhr früh stattfindet, die “Tonart Country”“, brachte unlängst in ihrer Septemberausgabe zahlreiche Hörbeispiele. Ein Fest.

Man hört an allen Ecken und Enden den Kinderbuchautor raus, so eine Freude an Sprachschönheit um ihrer selbst willen, so ein Spaß an Rhythmus und dreimal schiefer gelegten Bedeutungsebenen glitzert und blinkt und tanzt und trällert da mit. Egal, ob es albern oder weise wird — es muss gesungen werden, weil es noch nie gesagt wurde und einem den Tag aufhellen kann, da muss man kein Kind sein, da muss man auch nicht erwachsen sein, da muss man einfach hinhören und staunen, was alles möglich ist, wenn man es nur geschehen lässt. Anscheinend geht sowas wirklich nur auf Englisch, denn aus England kennt man die aberwitzigen Kinderbücher von Lewis Carroll, in denen Fünf- wie Fünfzigjährige auf ernstzunehmende philosphische Inhalte stoßen, und die manche sprachwissenschaftlichen Erklärungsansätze erst möglich gemacht haben (siehe: Portmanteau) und Ogden Nash. Was kennt man aus Deutschland? Tom Astor und Bosshoss.

Mit seiner Gedichtgestaltung war Silverstein heikel: Da schrieb er dem Verlag vor, welches Papier für die Bücher zu verwenden sei, weil er das als Teil der Aussage betrachtete. Der “Playboy”, für den er Cartoons lieferte, ließ sich weniger dreinreden, aber wir waren bei seinem jugendfreien Werk. Da nimmt es Wunder, dass er seine Lieder auf keinen besondere Stimme festlegte. Silverstein-Gedichte dürfen nur auf fünfundachtzig Gramm mittelgrobes Korn mit zehn Prozent Sepiatönung gedruckt, aber seine Lieder gleichermaßen von Kris Kristofferson und Dolly Parton gesungen werden, und Harry Rowohlt darf “clam” mit “Auster” übersetzen — immerhin aus dem nachvollziehbaren Grund, dass “It’s all the same to the clam” besser marschiert, wenn man in ausgesucht wurschtigem Bairisch (das der Hamburger Rowohlt jedenfalls vorbildlicher beherrscht als mancher, der vorgibt, bayerische “Volksmusik” zu treiben) ranzt: “Des is doch der Auster so wurscht.”

Erklären wir es uns damit, dass ein Lied als Live-Event weiter herumkommen muss denn der festgelegte Gegenstand Buch: Bücher stauben ein, Lieder entstehen jedes Mal neu. Beiden schadet es nicht, im Gegenteil. Eingestaubte Silverstein-Bücher bleiben tanzbar, Silverstein-Lieder sind in jeder Instrumentierung unverwüstlich, da konnte Bernadette la Hengst den “Boy named Sue” sogar zum “Mädchen namens Gerd” umwandeln (2002).

Wenn ich achtzig bin, werd ich auch so ein Schrat, meine Produktion an cantabilem Kinderkram läuft ständig. Und Weihnachten ist ja auch gleich schon wieder.

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Bild: Rebecca Grites: Shel Silverstein makes the perfect vintage summertime look, 10. Mai 2009;
Dokumentation: Jon Grimson for Sugarhill Records: Bobby Bare Jr. and Bobby Bare Sr.: “Twistable Turnable Man”, 2010.

Try as I like to find the way, I never can get back by day, nor can remember plain and clear the curious music that I hear.

Jung ist man dann, wenn man jung ist in Farbe, Form und Bedeutung.

Vroni, Mai 2010

Plüschwolf

Buch: Robert Louis Stevenson: A Child’s Garden of Verses, 1858;
Musik: Natalie Merchant: Leave Your Sleep, 2010.

Film: Nonesuch Records über Natalie Merchant: Leave Your Sleep, 2010.

PS: Leider muss ich aus juristischen Gründen an dieser Stelle vermerken, dass das Bildmaterial meinem eigenen Copyright unterliegt, weil ich keine 8000 Euro zuviel hab. Die Bilder sind zur Gaudi auf meinem Flickr-Account, die schenk ich Ihnen.

Reiselied. Das Lied zum 1. Mai

Cover Das Wirtshaus an der LahnDie Melodie kennen Sie von Slime, die sich 1992 auf der Viva la Muerte (nur auf der LP!) redlich um zeitgemäße Saufromantik bemühen, aber ein paar Textstellen verwenden, wie wir sie bewusst meiden sollten: Mit “Unser Orden ist verdorben” ruinieren sie die Aktualität wieder, die sie mit der Instrumentierung reingebracht haben — aber zum Gewöhnen ist die Version gar nicht schlecht. Zum Übernehmen hören Sie deshalb lieber Peter Rohland zu: auf Landstreicherballaden, 1996. Schnell, unkompliziert und ästhetisch unaufgeregt ist sie dem etwas struppigen, aber höchst brauchbaren instrumentalen Video von Mr. Gammler entnommen. Bei den Akkorden kommen Sie zurecht mit C/a//C/F//C/G//C, also dem, was sich von selbst ergibt. Nicht so zaghaft.

Aus dem im Überfluss bekannten Strophenmaterial hab ich zu Lichtmess aus dem Reiselied eine Version konstruiert, die geographisch Sinn ergibt und jetzt auch zum 1. Mai taugt. Für den Vortrag vor einem Publikum mit eher peripherem ethnologischem und archäologischem Interesse, mit dem man sich weder zur Lach- noch Schnarchnummer macht, ich denke da klassischerweise an Lagerfeuer, empfehlen sich die Strophen 1 bis 5, anschließend erst wieder 21 bis 24; neun Strophen reichen vollauf. Lassen Sie im Zweifelsfall lieber noch 21 und 24 weg und stiften Sie die Leute im Refrain zum Mitgrölen an, dann kann sich keiner beschweren. Das gibt einen aufmüpfigen, schön antiquierten Text auf eine unentrinnbar schmissige Melodie, mit dem man bei den Mädels punkten kann. Bei den richtigen jedenfalls. Das war ein Tipp, Jungs.

Verlinkt sind Stätten der Einkehr, die wir freiwillig aufsuchen würden. Manche wurden am lebendigen Leib getestet. Prost.

 

Reiselied

1.: Lustig, lustig, ihr lieben Brüder,
nun leget all eure Arbeit nieder
und trinkt ein Glas Champagnerwein.

Refrain: Denn unser Handwerk, das ist verdorben,
die besten Saufbrüder sind gestorben,
||: es lebet keiner mehr als ich und du. :||

2.: Auf die Gesundheit aller Brüder,
die da noch reisen auf und nieder,
die sollen unsre Freunde sein.

3.: Und sollte wirklich noch einer leben,
so soll der Meister ihm den Abschied geben,
denn er macht ihm das Leben sauer.

4.: Weg mit dem Meister, mit all den Pfaffen,
ja Kaiser, König soll sich raffen:
Weg, wer da kommandieren will.

5.: Als wir durch deutsche Lande zogen,
haben wir so manchen Wirt betrogen,
doch seine Tochter war uns gut genug.

6.: In Lübeck hab ich es angefangen,
nach Hamburg stand dann mein Verlangen,
das schöne Bremen hab ich längst gesehn.

7.: Wie auch Celle, Hannover, Minden,
dann wolln wir auf dem Rhein verschwinden
wohl nach dem alten heil’gen Köln.

8.: Wir wollen auch noch Bonn besuchen,
in Bingen gibt’s zum Wein auch Kuchen,
bei Mainz, da fließt der Main in’ Rhein.

9.: Frankfurt am Maine hab ich gesehen
der Herbergstochter mußte ich gestehen:
Der letzte Heller will versoffen sein.

10.: In Mannheim wolln wir unser Glück probieren,
nach Karlsruh soll uns der Weg dann führen,
so kommen wir ins Elsaß rein:
In Straßburg gibt es guten Wein.

11.: In Freiburg geht’s nicht lang logieren,
wir wollen in die Schweiz marschieren,
nach Basel, Zürich und bis Bern.

12.: Nach Thüringen möcht ich hinein,
in Jena, Erfurt, Weimar sein
und auf der Wartburg kehren ein.

13.: In Königsbrück hat mir’s gefallen
die vielen Töpfer hier vor allem,
die Scheiben drehn sie, drehn und drehn.

14.: Was warn die Töpfer für Gesellen,
hörten sie nachts die Hunde bellen
so fraßen sie die einfach auf.

15.: Wie auch in Leipzig, Dresden, Sachsen,
wo all die schönen Mädchen wachsen
wohl in dem schönen Rosenthal.

16.: Dann wollen wir uns aufs Schifflein setzen
und unser junges Herz ergetzen,
wir fahrn die Elbe hinab zur See.

17.: Nun Schifflein, Schifflein, du musst dich wenden
und dich hin nach Riga lenken
wohl zu der russischen Seehandelsstadt.

18.: Und auch in Polen ist nichts zu holen,
als ein Paar Stiefel ohne Sohlen,
ja nicht einmal ein Heller Geld.
[alt.: von dort kommt man nicht ungeschoren,
in Danzig fängt die See schon an.]

19.: Nun wollen wir es noch einmal wagen
und wollen fahren nach Kopenhagen
dort zu der dänischen Residenz.

20.: In Bergen regnet es große Tropfen,
getrunken wird hier aus Malz und Hopfen,
korngelb gebrautes nordisch Bier.

21.: Und wer dies alles hat gesehen
der kann getrost nach Hause gehen,
und nehmen sich ein Mägdelein.

22.: Ich hatte manchen blanken Gulden,
heut hab ich jede Menge Schulden,
doch einen Humpen für der Seele Ruh.

23.: Schlagt ein die Fässer, lasst es laufen,
wir wollen heut noch einen saufen,
ja solches Himmelreich ist nah.

24.: Darauf wollen wir lustig saufen,
schöne Mädchen wollen wir uns kaufen,
ja das soll unser Handwerk sein.

Bild: LPCD Hamburg.

Andante

Vorläufige Stoffsammlung zu einer vergleichenden Studie in Musikologie, Illustration und Poesie:

Sabine, Sabine
spielt auf der Violine
das hohe C mit dem kleinen Zeh,
damit man ihre Beine seh.
Da braucht man Proteine,
ich nehm noch ‘ne Terrine.
Zu allem gute Miene
macht Sabine.

Volkmar Döring

Und wenn ich nochmal von vorne anfangen könnte, würde ich versuchen, weniger perfekt zu sein. Ich würde von März bis Oktober barfuß gehen, viel in Flüssen schwimmen und vor allem mit Kindern spielen. Darum geht es, das ist es eigentlich.

Jorge Luis Borges

Sift her, from Brow to Barefoot!
Strain till your last Surmise —
Drop, like a Tapestry, away,
Before the Fire’s Eyes —
Winnow her finest fondness —
But hallow just the snow
Intact, in Everlasting flake —
Oh, Caviler, for you!

Emily Dickinson: Doubt Me! My Dim Companion!

Ein schöner Fuß ist eine große Gabe der Natur. Diese Anmut ist unverwüstlich. Ich habe sie heute im Gehen beobachtet; noch immer möchte man ihren Schuh küssen und die zwar etwas barbarische, aber doch tief gefühlte Ehrenbezeugung der Sarmaten wiederholen, die sich nichts Besseres kennen, als aus dem Schuh einer geliebten und verehrten Person ihre Gesundheit zu trinken.

Goethe: Die Wahlverwandtschaften, 1809, Teil I, Kapitel 11

Ihr weißen Mäuschen, nehmt euch in acht,
Laßt euch nicht ködern von der weltlichen Pracht!
Ich rat euch, lieber barfuß zu laufen,
Als bei der Katze Pantoffeln zu kaufen.

Heinrich Heine: Rote Pantoffeln, 1853

Here we are full in the Midst of broad Scotch ‘How is a’ wi yoursel’’ – the Girls are walking about bare footed and in the worst cottages the Smoke finds its way out of the door – I shall come home full of news for you.

John Keats to Fanny K.; Dumfries, July 2nd 1818

„Da drüben!“ unterbricht Andreas meine Vision. „Das Hippiemädchen spielt Luftgeige!“ Tatsächlich: Barfuß tänzelt sie im weiten Batikhemd über das irische Moos und lässt ihre imaginäre Fiedel erklingen. Wahnsinn.

Christian Kortmann: Let it rock. in: Die Zeit 18/00, 27.4.2000, Leben Seite 3.

Die Schwiegermutter hatte ihr zum Dienst und Zeitvertreib etliche Kammerzofen und Mägde mitgegeben, so muntere und kluge Mädchen, als je auf Entenfüßen ginge (denn was von dem gemeinen Stamm der Wasserweiber ist, hat rechte Entenfüße); die zogen sie, pur für die Langeweile, sechsmal des Tages anders an – denn außerhalb dem Wasser ging sie in köstlichen Gewändern, doch barfuß –, erzählten ihr alte Geschichten und Mären, machten Musik, tanzten und scherzten vor ihr.

Eduard Mörike: Historie von der schönen Lau, in: Das Stuttgarter Hutzelmännlein, 1852

Edge

The woman is perfected
Her dead

Body wears the smile of accomplishment,
The illusion of a Greek necessity

Flows in the scrolls of her toga,
Her bare

Feet seem to be saying:
We have come so far, it is over.

Each dead child coiled, a white serpent,
One at each little

Pitcher of milk, now empty
She has folded

Them back into her body as petals
Of a rose close when the garden

Stiffens and odors bleed
From the sweet, deep throats of the night flower.

The moon has nothing to be sad about,
Staring from her hood of bone.

She is used to this sort of thing.
Her blacks crackle and drag.

Sylvia Plath

Aneinander vorbei

Vom Speisewagen
Durchs Land getragen,
Siehst du Dörfer, Felder, Katz und Küh.
Angenommen, daß dir das Menü
Nichts kann sagen.

Irgendwo: Zwei Barfußmädchen winken.
Wissen selber nicht, warum sie’s tun,
Lassen ihre arbeitsharten Hände
Für Momente ruhn.

Wissen nicht, daß deine Hände sinken,
Winken,
Grüßen
In den ganzen langen Zug hinein,
Ahnen nicht, daß du die Scholle sein
Möchtest unter ihren schmutz’gen Füßen.

Angelangt, ergibst du mittelgroß
Dich der Höflichkeit, dem Stande und dem Gelde.
Nachts im Bett träumst du hoffnungslos
Von den beiden Mädchen auf dem Felde.

Joachim Ringelnatz, in: 103 Gedichte, 1933

Poetry is what in a poem makes you laugh, cry, prickle, be silent, makes your toenails twinkle, makes you want to do this or that or nothing, makes you know that you are alone in the unknown world, that your bliss and suffering is forever shared and forever all your own.

Dylan Thomas

Komm heraus, komm heraus, du traurige Braut!
Wir steh’n hier vor dem Hochzeitshaus.
0 weh, o weh! Wie weinet diese Braut so sehr!

Dieses Jahr trägt sie eine Kron’ auf ihrem Kopf;
übers Jahr werden ihr die Haare ausgeropft.

Dieses Jahr trägt sie einen Striffel um den Hals;
übers Jahr hat sie weder Salz und weder Schmalz.

Dieses Jahr trägt sie noch schöne Zwickelstrümpf;
übers Jahr hat sie weder Schuh und weder Strümpf.

Dieses Jahr trägt sie noch schöne gewichste Schuh;
übers Jahr, da läuft sie barfuß-barfuß zu.

Dieses Jahr trägt sie ein Ringlein an der Hand;
übers Jahr führt sie ein Kindlein an der Hand.

Volkslied; DVA A 101419 (Heringen, Nassau), »das Brautpaar erscheint an der Türe«, vgl. EB .870, VI. dt. Landsch. III, Nr.86, Rölleke Wh. 9, 2, S. 25-27; nach: Schürz dich, Gretlein.

Bilder: Alice Lemarin: Piano;
Andrea: Piano Fire;
Bright Eyes: Piano 1 und Pianofeet;
Celeste Photography: Day Thirty-Four;
Freddy Holiday: I Play the Piano;
Jennifer Elysse: Hold a Tune;
Laura Lou: Clever;
Lauren Mariah: Play His Praise;
Maeve Niacal: Elmo Says “Hi”, Too!;
Meredith//Olivetti Studio: Middle C;
MyFlyAway: For a While;
Pixel Noir: When I Play, It’s Like I Dance On The Keys
und I Have Been Using My Hands For Too Many Nights;
Sam Smiles: Here;
The Faintest way: On the Piano 1 und das ganze Piano Women-Set;
Tori Mercedes: This Is My Mix tape For You;
Yein: Dancing on the Piano #2.

Freuen Sie sich auf nächste Woche, wenn Vroni die Serie mit den Schreibmaschinen macht.

Poets are both clean and warm
And most are far above the norm
Whether here or on the roam
Have a poet in every home!

Monty Python

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