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Monat: April 2016

Gluteum ad genuflexes

Okay, der #FallBöhmermann scheint wohl vorerst durch, neue #Schmähgedichte scheinen nicht zu gewärtigen. Jedenfalls so lange, bis das ZDF wieder weiß, wo sich Herr Böhmermann aufhält, wenn er live irgendwelche Schulhofreimchen aufsagen soll — falls ihm nicht gerade seine eigene meinungsfreiheitlich gesonnene Regierung in den Rücken fällt, auch wenn er gar keine Meinung vertreten will.

Schade eigentlich, die Wortschöpfung “Schrumpelklöten” hatte einen gewissen pubertären Charme, und wenn das nächste Ziel seiner Neckereien wenigstens soviel Geistesgegenwart besitzt, innerhalb einer Woche etwas zu kontern wie “Pff, diese schwiindsichtige Zigarettenbirscherl wird wahrscheinlich alle Tage zusammenpacken seine Ikearegal”, muss niemand wegen einer Kasperlesendung ohne Einschaltquoten das Strafgesetz ändern.

In Österreich, das bis vor ein paar Tagen noch was auf künstlerische Freiheit gehalten hat, geht’s doch auch, jedenfalls haut das Wiener Prolo-Rock-Kabarett Die Hinichen, nach Selbstauskunft “die ordinärste Band von Österreich, verpönt bei Funk und Fernsehen”, seit Jahrzehnten einen Tonträger nach dem andern raus, auf dem es um es um nichts anderes als möglichst unwahre und unflätige Verunglimpfung Dritter geht. Und regt sich einer auf? — Ja. Aber keiner, der eine Ahnung von einem fröhlichen Beisammensein hat.

Damit wir durch allzu unverblümte Verschlagwortung keine verirrten Verwirrten auf unsere Seite ziehen, diene uns ein Soundvideo als Textbeispiel:

Und das, geliebte Freunde des freien Wortes, ist eins von harmlosen. Was wir daraus lernen? — Natürlich, dass man sich ruhig in ausreichend plastischem Deutsch äußern darf, wenn der Sprechakt es erfordert: Warum sollte man wohl von einem ohnehin falsch denotierten “Busen” säuseln, wo von Dutteln die Rede ist, Himmelarsch noch mal?

Mich bringt die Wiederbegegnung mit den musikalisch gar nicht mal so gefühlsarmen Hinichen darauf, endlich mal die bundesdeutsche Steilvorlage für Parodien jeglicher Tonart in die Mangel zu nehmen:

Das ist von Element of Crime: Das alles kommt mit, aus: Weißes Papier, 1993 via Jochen und Hannes live am 13. Dezember 2008 in der Küche des Franzosenhauses, was immer das ist, und so ziemlich die anrührendste Laien-Coverversion, die YouTube so hergibt.

Die CD hab ich, seit sie 1993 das Ding der Stunde war, aber immer wenn ich das Lied umschreiben will, komm ich bei dem Erstentwurf “die Vaseline, die du in Krankenhausmengen verbrauchst” vor kindischem Gekicher nicht weiter. Vor allem, wenn ich mir das Gesicht von der Kandesbunzlerin dazu vorstell. — Einen belustigten Tanz in Mai wünschen wir.

Ich muss nomma fix nach Frau Piepenbrinck röwer

Das darf mich jetzt wieder keiner fragen, wie man von der Recherche über die Schuld und Sühne des größeren Kollegen Böhmermann auf eine alte Kinderserie namens Neues aus Uhlenbusch kommt.

Jedenfalls soll die 1977 bis 1982 sonntagnachmittags im ZDF gelaufen sein und steht heute ziemlich lückenlos auf YouTube. 1977 war ich neun und mir anscheinend schon zu cool für Kinderserien. Als obere Altersgrenze der Zielgruppe für Kinderfernsehen gelten 14 Jahre; danach entsteht eine Pause, bis man das Zeug gesellschaftlich unsanktioniert wieder “kultig” finden darf.

Dabei wirkt Neues aus Uhlenbusch allenfalls durch sein Personal im Kindesalter so, als ob es sich an Kinder richtete. Es gibt keine durchgehenden Hauptdarsteller, nur eine durchgehende Nebenrolle von Hans Peter Korff als Briefträger und lieber Onkel des gesamten norddeutschen Kleinstadtidylls. Es gibt keinen durchgehenden Schauplatz: Obwohl in Norddeutschland gleich zwei Uhlenbüsche vorrätig wären, eins in der Wesermarsch, eins im Kreis Herzogtum Lauenburg, wurde in Liegenschaften wie Rehburg-Loccum, Evessen, Bornum am Elm, Königslutter, Räbke oder dem vormals literaturhistorisch hervorgetretenen Wiedensahl gedreht.

Es gibt weder eine durchgehende Botschaft außer der einen umfassenden der 1970er Jahre — Kinder, lasst euch nichts gefallen und seid nett zueinander — und es gibt nicht einmal besonders viel Handlung, geschweige denn Action, und wo es doch eine gibt, klafft ihr Ende meistens weiter offen als bei Jim Jarmusch.

Es gibt keine durchgehenden Funktionen, weder am Drehbuch, der Regie noch nur der Regieassistenz. Es gibt keine Identifikationsfiguren außer einem trotteligen Briefträger, der keine Rollenmodell bieten kann. Es gibt, man muss es so sagen, keinen Grund, sich das anzuschauen. Überhaupt kann man einwenden, es sei alles ein recht planloses, breitärschiges Herumgeeier. Man kann aber auch besonnenes Storytelling dazu sagen und wertschätzen, dass alle Figuren, alle Ereignisse und alle Bilder endlich mal ausreden dürfen.

Die erste Folge lief am 24. Dezember 1977, der noch ein Samstag war und im weiteren Verlauf auf regelmäßige Sonntage umgestellt wurde — und geht gleich zur Sache mit den sozialen heißen Eisen: Bierlisa stellt am Heiligabend zur Einführung erst mal dar, wie ein zeitweise alleinerziehender Kleinbauer seinen Hof versäuft und seine Tochter unbeaufsichtigt an ungesicherten Orten spielen lässt, während er im Wirtshaus hockt. Das Happy End besteht darin, dass eine unbescholtene Oma, die als besonders einfühlsam gezeichnet wird, vor den Augen des Alkoholikers ein Glas Bier zur Schau auf ex trinkt.

Das sind alles hohe künstlerische Zumutungen ans Publikum, wie sie heute nicht einmal mehr an Volljährige herangetragen werden. Die Altersgrenze von 14 Jahren ist eine obere, die von Kindern selbst und unbewusst eingehalten wird, kein vorgeschriebenes Mindestalter. Solche Themen und Handlungsverläufe würde sich im jüngeren Fernsehgeschehen kein Sender mehr trauen — schon allein weil sich kein Drehbuchschreiber mehr so einen Vorschlag wie “ich hab eine super Idee! Wir machen eine Kindersendung, in der jede Woche andere Leute auftreten und bloß immer ein trotteliger Briefträger rumradelt! Für den Vorspann nehmen wir ein Zeichentrickviech, das auch sonst nirgends reingepasst hat und nix und wieder nix mit dem Rest zu tun hat, Spannungsbogen brauchen wir auch keinen, und nach einer halben Stunde hört der Film auf!” im Ernst antun will. Lassen Sie mich also gar nicht erst mit dem Tatort anfangen, mit dem angeblich erwachsene Leute seit Generationen sehenden Auges (wie auch sonst …) ihre Sonntagabende verschleudern.

Das war mal im öffentlich-rechtlichen Fernsehen und galt nicht etwa als provokanter Trash, sondern als pädagogisch wertvoll. Gut, das war auch in jener versunkenen Welt, in der man unangeschnallte Kleinkinder besten Gewissens bei zugeriegelten Autofenstern mehrere Stunden lang mit Zigaretten einqualmte, wofür einem heute wahrscheinlich das Jugendamt mit Blaulicht und Sirene noch während der Ausübung das Sorgerecht für jeden Wellensittich entrisse. Dafür kann man lernen, ausführlich in ein Kinder- oder Erwachsenengesicht zu schauen, ohne dass jeden Moment mit umso höherer Schlagzahl die Oneliner des Jahrhunderts rauspurzeln müssen. Das ist pädagogisch wertvoll.

Als Anspieltipp verlinke ich die Folge Der große Bruder vom Sonntag, den 16. November 1980 — da spielt den kleinen Bruder nämlich der achtjährige Moritz Bleibtreu, weil er zeitweise der Sohn vom Briefträger “Onkel Heini” Korff war. In den restlichen 39 Folgen kann man dann raten, wo man gerade die Dorfbesichtigung im Geburtsort von Wilhelm Busch mitmacht.

Achtung an alle! Bitte beachten! Es gilt: und zwar folgendes. Was ist zum Beachten. Bei uns wird der Böhmermann groß geschrieben. Das ist das A und das O.

Update zum Langenscheidt Deutsch—Mutter/Mutter—Deutsch:

Um wieder mal meta zu werden: Wer bloggt überhaupt noch? Nachdem klar geworden war, dass ein Blog-Eintrag doch einen gewissen Aufwand erfordert, war alsbald Sense mit der Blogosphäre, und Twitter kam gerade recht, um sich herauszureden, dass man da gar nicht mehr als 140 Zeichen reinschreiben kann. Zum Vergleich: Ich brauche für einen üblichen Eintrag zwei bis drei Stunden, mit Nachdenken wird’s ein Tageswerk, wenn ich Bilder, Bildlizenzen, belegende Links, ausschmückende Links, zurechnungsfähiges Deutsch, handgeschriebenes HTML, einen Soundtrack, ein Layout und womöglich auch noch eine Idee haben soll, geht die ganze Woche drauf. Meine literaturtheoretischen Auslassungen über die aufregenden Abenteuer von Doctor Faustus und seinen komischen Freunden sind eigentlich zwei Vollzeitjobs. Selbstverständlich sind wir nur die Besten, nicht die Schnellsten. Wenn mir wieder einer seine wertvollen Tipps mitteilen will, wie ich schneller sein könnte — kein Problem: Dann verschieb ich den Eintrag halt einen bis zwei Monate.

Darum gibt’s bei uns kaum jemals was Aktuelles wie den Böhmermann (gestern war sein Pipikackaficki-Video noch da). Es bloggen mithin nur noch die Unerschrockensten und die Schmerzbefreitesten. Bloggen sollten aber solche, die mehr zu sagen haben als 140 Zeichen. Viel zu selten vernommen und gelesen wird der gewinnend markige, allzeit eindeutige Tonfall des deutschen Mittelstands. Noch zu erstellende Weblogs hätten sich Themen zu widmen wie (alphabetisch):

  • Achtung an alle!!!
  • Augen auf und flexibel sein!
  • Bei uns ist der Fortschritt Tradition.
  • Bei uns wird der Kunde groß geschrieben.
  • !!!!!Bitte beachten!!!!!
  • Das ist das A und das O.
  • Da muss man da das Gespräch, das muss man da suchen und in einen Dialog, da muss man da treten.
  • Es gilt: auf Zack sein!
  • Und zwar folgendes.
  • Was ist zum Beachten.

So passiv-aggressiv mein ich das gar nicht: Auch wenn ich mich nicht vor der IHK mit den Kollegen messen lassen muss, wird man wohl noch neidisch sein dürfen.

Soundtrack: Das Handwerk: Die Wirtschaftsmacht von nebenan, 2010.

Staffelknipsen

Auf solche Projekte steh ich ja heillos: Daily Portrait IV Berlin 2015–2016 ist mal wieder so eine Fusion aus Fotografie und Happening. Warum gedeiht so was wieder nur in Berlin (gemeint ist der Dörferhaufen bei Polen) und nie in München? — Die Projektbeschreibung:

One camera and 365 Berliners. I photographed Elle in her apartment. I gave her my camera and she did take a photo of M in her apartment next day. M photographed Jonathan and Jonathan photographed Carise and Carise photographed Christoph and Christoph photographed Joanna and Joanna photographed Terka and Terka photographed Stephan… Until 365 photos will be made. If you would like to be photographed by Berliner you don’t know and take a photo of another Berliner you don’t know next day, please email me to: portraitdaily@gmail.com The photo shoot takes place at the model’s homes. The whole body is captured on the photo. Those who want can be naked, otherwise in underwear. Photographing is for free. In order to take part you have to be over 18. All 365 photos will be exhibited in a gallery and a book will be published. Project is non-profit.

Überhaupt ist alles sehr berlinerisch: Die Selbstdarstellung gibt’s gar nicht auf Deutsch, der Bonus ist, dass man für eine behauptete Dienstleistung nicht auch noch zahlen muss, keiner verdient was dabei, keiner kennt den anderen, die Teilnahme ist nicht jugendfrei und alle sind nackig.

Jeden Tag einen fremden Berliner in allen Farben und Formen mehr angucken kann man am besten auf Flickr und Twitter. Ich empfehle die vermutliche Hauptseite auf Tumblr, weil die unter den sozialen Netzwerken am wenigsten mit stark frontal nudity rumzicken und nicht gleich von der Tatsache offended — das heißt tatsächlich: beleidigt — sind, dass eine schöpfende Kraft einst an Frauen Brüste befestigt hat.

Der Pornofaktor ist gering: Mit keinem der freundlichen, aufgeschlossenen und kulturell interessierten Berliner — und Berlinerinnen — ist etwas geschehen, an dem er oder sie nicht selbst ungefähr die halbe Regie geführt hätte. Nackte in ihrer Wohnung anzuschauen hat zwangsläufig etwas Voyeuristisches, aber alle waren offensichtlich einverstanden damit: Niemand wurde zu einem Objekt degradiert, man erblickt lauter lustige, stolze, oft ansehnliche, aber allesamt respektable Leute.

Bin jetzt ich der einzige, dem auffällt, wie gleichbleibend hochwertig das Projekt läuft? Alles high-end, alles high-key, alles highly sophisticated. Penibel gezählt hab ich nicht, aber mit Stand von Anfang April 2016 müsste ungefähr die Hälfte der 365 Fotos durch sein. Bis jetzt stelle ich keinen Flüsterpost-Effekt fest. Sollte nicht längst jeder zweite aus der Rolle fallen? Lücken in der Kontinuität entstehen, weil jemand zu einer anderen Entscheidung als stinkbesoffen und verkokst heute früh um drei im Sankt Oberholz gelangt ist oder weil ein anderer doch kein so nettes, urbanes, zuverlässiges Haus war?

Ich meine, hey: Es ist Berlin — und jeder, wirklich jeder wohnt in einem vorbildlich aufgeräumten, professionell ausgeleuchteten Loft, hat den erlesensten Kunstgeschmack an der Wand hängen und hupft nackicht für einen Wildfremden durch sein Schlafzimmer, nur weil er a) einen Fotoapparat und b) gestern in der Schlange vor der Smoothie-Manufaktur blöd gefragt hat?

Wie darf sich ein Münchner Bergbauernbub das vorstellen? Da fragt heute jeder sofort den nächsten und kriegt auch gleich für morgen einen Nackig-im-Schlafzimmer-rumhupf-Termin? Bei Tageslicht? Hält die heikle Etikette der Amateur-Aktsitzung ein, vergisst das Briefing und besonders das einheitliche Querformat nicht und verwackelt nie? Gibt die Hand, sagt artig: “Dankeschön, hat mir jefreut, bis ürjendwann ma”, verkneift sich höflich das “und wennde ma nüscht for deine urst schnieke Wassermatratze hast, meine Nummer unne Addy haste ja, wa”, geht heim, photoshoppt seine Ausbeute auf genau 350 dpi und mailt sie schnurstracks brav an portraitdaily@gmail.com? Jeden lieben Tag? Alle drei Hunderte, fünf und nochmal sechzig? — Boah, Berlin muss ja echt rocken.

Und das soll die Mami glauben? Oder ist das kleinlich, in einer einwandfreien, wunderschönen bunten Menschensammlung mit gar nicht so wenigen tollen Bildideen als erstes ein Fake zu vermuten? Sollte mich hier jemand für dumm verkaufen, dann wenigstens nicht unter Preis. Filme guck ich auch gern, und die sind auch nicht wahr. Aber sie stimmen.

Als Auswahl folgen dem großen Thema des Weblogs entsprechend die sechs bisherigen Bilder, auf denen mir Katzen aufgefallen sind. Wie sich das gehört, ist das letzte das beste.

Daily Portrait IV Berlin 2015-2016, Tumblr

Daily Portrait IV Berlin 2015-2016, Tumblr

Daily Portrait IV Berlin 2015-2016, Tumblr

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Daily Portrait IV Berlin 2015-2016, Tumblr

Daily Portrait IV Berlin 2015-2016, Tumblr

Bilder: Daily Portrait IV Berlin 2015–2016.

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