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Kategorie: Spruch des Tages (Seite 3 von 3)

Analyse, ach Analyse

Twitter-Profilbild Naina, 17, dauerhungrig, selbsternannte Prinzessin von allem, 2014Ich bin fast 18 und hab keine Ahnung von Steuern, Miete oder Versicherungen.

Aber ich kann ‘ne Gedichtsanalyse schreiben. In 4 Sprachen.

Das hat am Samstag, den 10. Januar 2015 Naina aus Köln getwittert, was einem egal sein könnte, wenn es nicht so viele andere interessieren würde — und wenn sie nicht so recht hätte und gleichzeitig unrecht. Internet halt: Interessant ist, was alle anderen interessiert, und was stimmt, weiß erst recht keiner.

Den Vorwurf, den Naina sich selbst und implizit dem nordrhein-westfälischen Schulsystem macht, machen meine Eltern mir explizit seit 30 Jahren. Ich bin nämlich fast 47 und hab keine Ahnung von Steuern, Miete oder Versicherungen, und ich wäre glücklicher mit meiner längst abgeschüttelten Ausbildung, wenn ich meine Gedichtanalysen viersprachig abfassen könnte.

Dabei hat Naina wahrscheinlich selbst gar nicht gemerkt, worin ihr eigentlicher Vorwurf besteht: Offensichtlich hat ihr Deutschunterricht versagt, indem er Naina vorenthalten hat, worin der Sinn davon liegt, Gedichte zu analysieren: um wenigstens um die nächsten zwei Ecken herum zu denken.

Uli Hoeneß — ja, warum nicht zum Beispiel der — ist gerade 63 geworden, gilt gerade wegen einer rechtswirksamen Gefängnisstrafe als erfolgreich, und sein Erfolg bestand jahrzehntelang darin, keine Ahnung von Steuern, Miete oder Versicherung zu haben. “‘ne Gedichtsanalyse” hält er wahrscheinlich für ein Bierzeltlied, und was soll man denn in einer oder gar in vier Sprachen sagen, wenn man Bratwürste verkaufen kann? “Senf?”

Angeblich konnte Uli Hoeneß vor einigen Generationen mal ganz ordentlich Fußball spielen; Naina ist leuchtend hübsch, jung und dazu noch rothaarig. Sind das nicht die Qualifikationen, auf die es in einer postkonsumkapitalistischen Gesellschaft ankommt? Was sollten diese Schoßkinder des Glücks ihre Lebenszeit an Steuern, Miete oder Versicherungen verschwenden?

Angenommen, das nordrhein-westfälische Schulsystem verfolge einen gewissen Bildungsanspruch, soll es mal die ohnehin viel zu kritisch hinterfragende Naina vom Schadwissen der Gedichtanalyse fernhalten: Berühmt ist sie bereits für die nächste Woche, hübsch bleibt sie locker noch zwanzig Jahre, und noch weiter plant kein Mensch.

Ein gnädiges Schicksal bewahre uns vor einem Gemeinwesen, in dem sich alle mit nichts als dem auskennen, was Naina als “Steuern, Miete oder Versicherungen” verherrlicht. Dann ist, so wundersam das inzwischen klingt, sogar Platz für das, was sie als “‘ne Gedichtsanalyse” anprangert.

Die Naina, die hat doch zu ihrem öffentlich missbilligten Deutsch bestimmt Englischfranzlatein dazugenommen, oder bei neusprachlichem Zweig Spanisch, weil Latein doch sowas von Nineties ist und damit sie auf vier Sprachen kommt und später mal nach dem FSJ in Nicaragua Wasmitmedien machen kann, wetten? Dann auf nach Irland. Da fällt man als Rotschopf nicht so auf, und wie man hört, halten sie da sogar noch was von Gedichten. Steuern, Miete oder Versicherungen? Ja, nee, is klar, ne.

Moment.

Update: Ich hab jetzt ‘ne Ahnung von Miete, Steuern und Versicherungen und kann Gedichtanalysen ohne S schreiben. Immer noch auf 4 Sprachen.

Das hat Naina am 14. Januar 2015 getwittert. Steile Lernkure, alle Achtung.

Bild: Naina aus Köln, 17, dauerhungrig, selbsternannte Prinzessin von allem, 2014.

Bavarian Gothic

Update zu Peregrini Bavarici:

Als ich noch in Nürnberg gewohnt hab, wusste ich gar nicht richtig zu schätzen, dass es da eine … nun ja: quicklebendige Gothic-Szene geben sollte. Mich entschuldigt einzig, dass ich das gar nicht gemerkt hab, und einfach so unter den schwarzgewandeten Bleichgesichtern meine Nervengifte zu mir nahm.

Das ist überhaupt das Schöne an den Gruftis: Es sind die Dickbrettbohrer unter den Subkulturen. Immer mit Edgar Allan Poe und Samuel Beckett befasst, immer ein besinnliches Liedchen auf den schwarz abgesetzten Lippen, stets im Bewusstsein der Vergänglichkeit aller Existenz. Und mit Schwarz ist man sowieso immer und überall angezogen.

Als ich nach Bayern ausgewandert bin, waren die Leute nicht mehr so schwarz, jedenfalls nicht äußerlich. Mit der Vergänglichkeit haben sie’s aber hallo:

Memento-mori-Fensterladen in Lenggries

Memento-mori-Fensterladen in Lenggries

Am Grabe streut man frische Blumen,
Warum im Leben nicht?
Warum so sparsam mit der Liebe,
Bis das Herze bricht!

Den Toten freuen keine Blumen,
Im Grabe fühlt man keinen Schmerz.
Würd’ man im Leben mehr Liebe schenken,
So lebte länger manches Herz.

Mir sagt ja die Unverfrorenheit zu, mit der die Oberländer Goten auf dem linken Fensterrahmen schnauzig und unterkühlt die Chevy-Chase-Strophe in die Memento-mori-Lyrik tragen und ohne falsche Scheu vor genug Senkungen pro Vers “Herz” auf “Schmerz” reimen — und vor allem das lebensbejahende “Im Grabe fühlt man keinen Schmerz”. Amen, Brüder!

Beinhaus St. Jakobus d. Ä., Lenggries

Buidln: Lenggries, glei wo ma einekimmt, und Sankt Jakobus der Ältere, “der Dom im Isartal”, ebenda.
Danke an Ralf für die Kamera, weil bei meiner die Akkus runter waren (soviel zur Vergänglichkeit)!

Es dürfen uns also nicht die Urtheile, nicht die Spöttereien Wunder nehmen

Neulich im Bus 58:

Wird demnächst in München nicht wieder diese Theresa-Kirmes auf der Oktoberwiese angezapft?

Der Tag wird kommen, an dem ich junge Frauen im Bus aus fadenscheinigen Gründen auf den Mund schmatz, und dann wird vor Schande mein Leben sich enden (vor allem, wenn meine Frau dabei ist). Hoffentlich ist dann wenigstens Theresa-Kirmes, da ist sowas normal. Zuzeiten soll man an den Lustbarkeiten der ansässigen Jugend maßvoll teilhaben.

Im Ernst: Sollte je ein ungnädiger Dämon glauben, mich zum Oktoberfest reiten zu müssen, werde ich hoffentlich schon am Eingang zurückgewiesen (daher “Wiesn”), und ich hab die Madame de Staël dabei:

Franken, Schwaben, und, vor der Errichtung der berühmten Akademie zu München, auch Baiern, galten für schwerfällige einförmige Länder, wo es keine Künste gab, die Musik ausgenommen; wenig Literatur; eine rauhe Betonung, der die Aussprache der lateinischen Töchtersprachen ungemein schwer wurde; keine Gesellschaft; große Zusammenkünfte, die mehr einer Feierlichkeit als einem geselligen Vergnügen glichen; eine kriechende Höflichkeit gegen eine ungeglättete Aristokratie; Herzensgüte, Biedersinn in allen Classen, aber eine lächelnde Steifheit, die mit aller Zwanglosigkeit alle Würde verscheucht. Es dürfen uns also nicht die Urtheile, nicht die Spöttereien Wunder nehmen, die man sich über die deutsche Langeweile erlaubt hat. In einem Lande, wo die Gesellschaft so gar nichts, und die Natur so wenig ist, können nur die Sitze der Literatur, die gelehrten Städte, anziehend seyn. […]

Das südliche Deutschland, in jeder Hinsicht gemäßigt, schleicht im eintönigen Wohlseyn dahin, und verbleibt in diesem Zustande, dem nachtheiligsten für die Thätigkeit im Handeln wie im Denken. Der lebhafteste Wunsch der Bewohner dieser ruhigen fruchtbaren Länderstrecke besteht darin, so fortzuleben, wie sie leben; und wozu führt dieser Wunsch, wenn er der einzige ist? Er reicht nicht einmal hin, dasjenige zu behalten, womit man sich begnügt.

Na gut, es funktioniert sogar mit alten Frauen, die nie im Bus 58 gefahren sind.

Lieblingsbiber

Heinrich Ignaz Biber, Violinsonaten Nr.1-8, 1681Der auf ganz bescheidene Weise beste Satz der Woche steht in meiner Lieblingsabteilung, und darin in meiner Lieblingsunterabteilung, allein schon wegen des Namens: Alte Musik Neuheiten. Und darin auf den Violin Sonatas von Franz Biber:

Mit unglaublicher Musizier- und Fabulierlust bringt Andrew Manze uns seinen Biber nahe.

Hach. Wenn es diese Neuheit von 1994 jetzt auch noch auf die Spiegel-Sammlung Die besten guten Klassik-CDs schafft, brauch ich nicht mal mehr den Postillon, sondern allenfalls noch eine Sammlung “Die besten Scheiß-CDs”.

Und das halten die Leute für ernste Musik.

Soundtrack: Heinrich Ignaz Franz Biber:
Violinsonate 2: Praeludium/Aria e variatio/Finale,
Trio Romanesca.

Biberbild mit Kranich: Heinrich Ignaz Biber (1644-1704):
Violinsonaten Nr.1–8 (1681)
, Doppel-CD.

Man muss nehmen, was man kriegen kann.

Das sagt sich so dahin.

Muss man?
Gier in harten Zeiten (und auch sonst), das Erstbeste zu nehmen. Die Gier der Bänker, die Gier der Konsumenten: Wir nehmen, was wir kriegen können, sonst nimmt es ein anderer.

Bild: Zirkuslichter. Der Zirkus des Lebens.
Zirkuslichter – Der Zirkus des Lebens und die Flammen der Hölle
(Bild: Vroni Gräbel, interpretierende Fotografie nach Art von Gerhard Richter beim Besuch des wunderbaren Zirkus Roncalli 2013)

Hieronymus Bosch assoziierte da keinen Zirkus, sondern einen Heuwagen als Symbol für Hab und Gut:

Hieronymus Bosch: Der Heuwagen (Mittelflügel), um 1500
Ein flämisches Sprichwort sagt: „Die Welt ist ein Heuhaufen – ein jeder pflückt davon, soviel er kann.” (Quelle: Wikipedia, Commons)

 

Matthias Claudius kämpft gegen den Google-Wettergott

Update 31. März 2013:

Zur gefälligen Beachtung: Ostern is!

Osterhasi

Auch wenn es stürmet und schneiet …

 

Matthias Claudius:

Jeden Morgen in meinem Garten
öffnen neue Blüten sich dem Tag.
Überall ein heimliches Erwarten,
das nun länger nicht mehr zögern mag.

 

Google Osterwetter (Der Blick aus dem Fenster tut‘s auch):

München, 2 Tage vor Ostern
Karfreitag 17:00
Vereinzelt Schnee
-1°

 

Und wie es zögert: Das Update mit unserer alljährlichen Trickfigur Osterhasi kommt deswegen auch erst am Ostersonntag.

 

Die Leistungsfähigkeit der Landschaft

Schild Landschaftsschutzgebiet Isartal, Dezember 2012

Lieber Besucher,

Sie befinden sich im Landschaftsschutzgebiet Isartal. In diesem Gebiet soll die Leistungsfähigkeit, die Vielfalt, Eigenart und Schönheit der Landschaft erhalten bleiben.

Aus Gründen des Vogel-, Amphibien- und Reptilienschutzes sowie der Erhaltung seltener Pflanzen wird ein Betretungsverbot nach Art. 26 BayNatSchG für die Hangrutschfläche erlassen.

Betreten verboten
1. Januar — 1. November

Landratsamt München

Wandern ist all about Unterwegssein, nicht möglichst effizient irgendwo hinkommen, sonst hieße es nicht Wandern, sondern Hinfahren. Deswegen verrate ich leider erst eine knappe Woche zu spät, dass Sie sich noch bis 1. November — vielleicht lieber vorsichtshalber bis 2. — gedulden müssen, bis Sie da auch hin dürfen. Gut, dass ich’s schon am 21. Dezember geschafft hab, so hatte 2012 doch wenigstens den einen Erfolg.

Mit den Vogelinseln wär ich trotzdem auch bis 14. März mal vorsichtig, die Fluss-Seeschwalbe soll ein geschickter Stoßtaucher sein:

Schild Landschaftsschutzgebiet Isartal Vogelinseln, Dezember 2012

Besonders geschützt sind die vor Ihnen liegenden Isarinseln. Sie sind “KInderstube” von Bodenbrütenden Vogelarten wie Flussseeschwalbe, Uferläufer und Regenpfeifer,

Zu ihrem Schutz ist das Betreten oder Landen an den Kiesinseln in der Zeit zwischen 15. März und 1. September untersagt.

Fachliteratur: Verordnung des Landratsamtes München zur Regelung des Betretens auf den Kiesinseln in der Isar zwischen Fluss-km 164,6 und Fluss-km 162,5 im Landschaftsschutzgebiet Isartal.

Die Bilder sind aus der Nähe des Georgensteins.

Lyrik zur Lage

Wenn die Gedichte
einfacher werden
so zeigt das
nicht immer an
dass das Leben
einfach geworden ist.

Erich Fried: Widerspiegelung, in: Lebensschatten, 1981.

Wer noch weiß, was ein Gedicht ist, wird schwerlich eine gutbezahlte Stellung als Texter finden.

Theodor W. Adorno: Theorie der Halbbildung, 1979.

La la lá lalala,
la la lá lalala,
la la lá, la la lá,
la la la.

“Israeli-French singer Yael Naim captured the world’s attention in 2008 when this winsome, enchanting single was picked up by Apple for the ad campaign for MacBook Air.” (National Geographic).

Diese Woche gelernt:

  • Ich bin zu alt, um noch Bücher von Leuten zu lesen, bei denen es nicht mal zu einer Gesamtausgabe bei Hanser gereicht hat.
  • Menschen unter 21 sind nicht sehr helle.
  • Katzen sitzen gern in Pappkartons.

Viel mehr ist da nicht.

Soundtrack: Spillsbury: Die Wahrheit
(“Schon gut — ja, ich weiß jetzt, was du meinst.
Na klar — war doch alles trotzdem gut.
Hau rein — und ich kenn ja dein Gesicht und find dich immer wieder.”),
aus: Raus, 2003.

“Das bisschen Wirkung muss man doch auch günstig kriegen können…”

???

Wirkung hat ihren Preis. In jeder Branche, so auch in der Kommunikation. Botox kostet mehr als Nivea. Weil es wirkt.

Wer es mit Strategie/Kommunikation/Design für seinen Auftraggeber schafft, dass neue Kunden oder Investoren gewonnen werden, wer es schafft, dass dessen Image aufblüht, oder dass dieser endlich von seinen Zielgruppen gefunden wird, darf: fair bezahlt werden. Ganz sicher!

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Mir begegnen viele Sprüche am Tag, die Besten stelle ich Ihnen vor.
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